1. Reichstag, Weimarer Republik


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herbeilassen, dann sollten sie doch einen Augenblick wenigstens die Scham packen, wie sie es fertig bekommen haben, die Steuern, die sie zu zahlen hatten, so lange Jahre diesem bankrotten Staat, der jetzt zu solchen Mitteln greifen muß, schuldig zu bleiben und wie sie diesem Staat durch faule Kriegsanleihepapiere das Reichsnotopfer abgegolten haben.

(Abgeordneter Dr. Helfferich: Die Leute haben die Anleihe in Goldmark eingezahlt!)

Präsident: Ich war eben im begriff, aufzurufen den nächsten Gegenstand der Tagesordnung: Zweite Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über Erhöhung von Zöllen. Zur Geschäftsordnung hat das Wort der Herr Abgeordnete Remmele.14

Remmele, Abgeordneter: Dieses Haus hat in dieser Stunde gezeigt, daß der deutsche Parlamentarismus auf den Hund gekommen ist.15

(Sehr richtig! bei den Kommunisten. - Lachen und große Unruhe rechts, im Zentrum und bei den Deutschen Demokraten.)

Das zeigt dieses Haus an dem Benehmen derjenigen Herren, die die Bildung für sich in Erbpacht genommen haben. Aber nicht allein diese Stunde, sondern bei den ganzen Verhandlungen über diese Gebiete in diesen Tagen in einem Augenblick, wo die deutsche Arbeiterklasse, wo den deutschen arbeitenden Ständen durch diese Galopparbeit, wie sie noch nie im Reichstag erlebt wurde, Milliarde um Milliarde abgepresst wird, sitzen die Verbrecher, die diese fluchwürdigen Gesetze in dieser Woche angenommen haben, hier und vergnügen sich über die Tat, die sie vollbracht haben.

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Herr Abgeordneter Remmele, haben Sie mit dem Ausdruck "Verbrecher" die Mitglieder dieses Hauses gemeint?

Remmele, Abgeordneter: Ich stelle ausdrücklich fest, daß die Gesetzesmacher - und das betone ich -, die solch ungeheure Lasten auf das deutsche Volk wälzen, nichts anderes sind, als was sie die Sozialdemokratische Partei vor Jahren an diesem Platze ebenfalls konstatiert hat, daß diese Unternehmungen und diese Gesetzesmacherei ein Verbrechen am deutschen Volke sind, und die Personen bezeichne ich als das, was die Sozialdemokraten stets - -

(Andauerndes Läuten der Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Herr Abgeordneter Remmele, Sie dürfen aber die Mitglieder des Hauses nicht Verbrecher nennen. Ich rufe Sie dafür zur Ordnung!

(Zurufe.)

Remmele, Abgeordneter: Die Gesetzesvorlage über die Zölle reiht sich würdig an alle Steuergesetze,


14S. 6554C
15S. 6555A

vorige

die in diesen Tagen angenommen worden sind, an, und die ganze Arbeit, wie sie das Haus bisher vorgenommen hat, zeigt wie ich schon einmal betont habe, daß der deutsche Parlamentarismus auf den Hundgekommen ist. Die Vorlage, 16 die uns jetzt unterbreitet worden ist, bringt ungeheuerliche Zumutungen für die deutsche Arbeiterklasse, die sich würdig an die indirekten Steuern reihen, die in diesen Tagen hier angenommen worden sind. Die vorgeschlagenen Zollerhöhungen führen zu Zuständen, die dem deutschen Arbeiter auch das Notwendigste entziehen, und es ist interessant, daß die "Arbeiterpartei" der Sozialdemokratie in ihren Forderungen auf Erhöhung der Zölle bei den Kommissionsverhandlungen nicht weit genug gehen konnte. Ich verweise darauf, 17 daß der Zoll auf Seife und andere Reinigungswaren wie Bürsten und Besen um das Doppelte erhöht werden soll. Man scheint von dem kulturellen Idealzustand, der hier in Berlin seit mehreren Monaten Platz gegriffen hat, auszugehen und die Reinigung von Wohnungen, von Höfen und Straße für Luxus zu halten. Den man sich in Deutschland nicht mehr erlauben darf. Auch bei einer ganzen Reihe von anderen Positionen finden wir eine ungeheure Belastungen der ärmsten Volksschichten. Die Brennmaterialien, wie Glühstrümpfe in Position 371, die Arzneien in Position 388 erleiden eine Verdoppelung des Zolls. Hier werden also die Kranken gegenüber den gesunden Volksgenossen noch besonders dafür bestraft, daß sie krank geworden sind. Wer sind denn nun diese Kranken? Sind diese Kranken nicht jene elenden, armseligen Arbeiter, die an Unterernährung unter den verschiedenen Arten von Krankheiten leiden?! Sie werden durch diesen Zoll noch besonders bestraft, da sie ihren Körper nicht so widerstandsfähig halten können wie die Besitzenden. Hier erweist sich das Kulturniveau dieses Hauses und die christliche Nächstenliebe, die hier gepredigt wird. Des weiteren werden mit einem doppelten Zoll alle Wirkwaren und Stoffe für Kleider, deren das Volk notwendig bedarf, ohne Unterschied restlos belegt. Wer heute weiß, wie es in Arbeiterfamilien zugeht, und wer weiß, daß die Anschaffung auch des armseligsten Kleides, daß die Anschaffung eines Hemdes für ein Kind direkte Dramen in den Familien hervorruft, wer heute weiß, wie ein Arbeiter, dessen Wohnung vollkommen entblößt ist von Kleidern, von Bettzeug, von Wäsche aller Art und der nicht mehr wie in früheren Zeiten diese Gegenstände wöchentlich wechseln kann, sondern sich wochenlang mit dem Leinenzeug begnügen muß, der muß zugeben, daß hier eine der ungeheuerlichsten Erscheinungen zu Tage tritt, daß man erneut versucht, alle diese Dinge durch Zölle zu verteuern und die Preise ins unendliche hinaufzutreiben.


16S. 6556B
17S. 6556C

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