1. Reichstag, Weimarer Republik


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Reichstag. - 195. Sitzung. Freitag den 24. März 1922

Seite 188

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195. Sitzung. [i]


Freitag den 24. März 1922


Vizepräsident Dr. Bell: Das Wort hat der Abgeordnete Stoecker. 1

Stoecker, Abgeordneter: 2 Meine Herren, der § 5 sieht die Bestrafung für die Steuerumgehungen bei der Ablieferung der Zuckersteuer vor. Das Gesetz selbst ist aber eines der arbeitsfeindlichsten, die uns in diesem Steuerbukett von der Koalition Stinnes-Scheidemann überreicht worden ist.

(Sehr gut! links.)

Macht ihr Steuerabzug doch nicht halt vor einem nahrungsmittel, das für die breitesten Massen des Volkes unentbehrlich ist.

(Erneute Zustimmung links.)

Neben der Zuckerknappheit, die wir seit langen Jahren verzeichnen müssen, 3 hat dann die allgemeine durch Ihre Wirtschaftspolitik eingetretene Teuerung den Zucker immer mehr zu einem Nahrungsmittel gemacht, das in proletarischen Familien wegen der teuren Preise heute kaum noch verwandt werden kann. Wenn wir in den letzten Jahren eine so starke Zunahme der Säuglings- und Kindersterblichkeit gehabt haben, dann nicht zuletzt dadurch, daß den Kindern dieses wichtige Nahrungsmittel durch die Politik entzogen wurde. Meine Damen und Herren! Das dies keineswegs eine kommunistische "Übertreibung" ist, das ersehen Sie aus der Denkschrift des Reichsgesundheitsamtes, die uns in diesen Tagen vorgelegt worden ist, in der die Säuglingskrankheiten und die Säuglingssterblichkeit nicht zuletzt darauf zurückgeführt werden, daß den Kindern der Familien der Arbeiter und Angestellten kaum noch in der notwendigen Menge Zucker zur Verfügung steht. In dieser Denkschrift des Reichsgesundheitsamtes mit ihren für unsere gesamte Volkswirtschaft geradezu erschreckenden Ziffern heißt es über den Mangel an Zucker für die Kinder:

Von sehr schlimmen Folgen für den Gesundheitsstand der Säuglinge ist gerade auch die Zuckerknappheit. Die erforderlichen Zusatzmengen Zucker zu den Milchverdünnungen stehen nicht überall zur Verfügung. Aber selbst da, wo genug für die Säuglinge vorhanden ist, kommen diese oft zu kurz, weil die Mütter bei der herrschenden Knappheit an Zucker diesen in dem zwar nicht zu billigenden, aber doch verständlichen bestreben, auch den anderen bedürftigen Familienmitgliedern etwas davon


1Bd. 353,S. 6591D
2 S. S.6592A
3 S. S.6592B

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zugute kommen zu lassen, im allgemeinen Haushalt mit verwenden.

Dieser Schritt ist bei der allgemeinen Teuerung nur zu verständlich, wenn er auch nicht zu billigen ist. Und weiter heißt es in der Denkschrift:

Bei dem Mangel an Zucker ist es daher nicht verwunderlich, daß ein großer Prozentsatz der Säuglinge schon in den ersten Lebenswochen und Monaten eine Verschlechterung der allgemeinen Konstitution zeigt.
Vizepräsident Dr. Bell: das Wort hat die Frau Abgeordnete Agnes.4

Agnes, Abgeordnete: Werte Versammlung! Der schlechte Ernährungszustand der unteren Volksschichten, die schlechte Kost ist nicht nur eine vorübergehende Erscheinung geworden, sondern sie ist ein immerwährender Zustand. Die Arbeiterfrauen und nicht nur diese, sondern die Frauen bis weit in die Kreise des Mittelstandes hinein, sind heute nicht in der Lage, die phantastischen Preise für Fleisch, Obst, Milch usw. zu zahlen. Die Küchen der großen Masse des Volkes sind nicht eingestellt auf eine richtige Ernährung, sondern sie können nur minderwertige Ware und allerhand Ersatzmittel verwenden. Daher der furchtbar schlechte Gesundheitszustand unseres Volkes. Da wollen Sie nun unseren Frauen auch noch das bisschen Zucker nehmen. Die Frauen sind infolge der heutigen Verhältnisse nicht mehr in der Lage, ihre Kinder selbst zu ernähren. Die wenigsten können es noch und sind deshalb auf künstliche Ernährung der Kinder angewiesen. Bei der künstlichen Ernährung ist aber neben der Milch Zucker unbedingt notwendig. Und diesen Zucker verteuern Sie durch die Steuer, so daß die unteren Schichten sich keinen Zucker mehr werden kaufen können.5 Der Zucker wird nicht nur um den Betrag der Steuer teurer werden, sondern wir haben die Erfahrung gemacht, daß bei allen diesen Verteuerungen auch noch die Extraprofite der Unternehmer zum Ausdruck kommen.7

(Zuruf bei den Sozialdemokraten: Unsinn!)

- Der Zucker ist für Geld ins Ausland verschoben worden. Die Zuckerfabrikanten haben während des Krieges ungeheuer viel verdient. Für das Ausland ist genug Zucker da gewesen. Und dann heißt es: schlechte Ernte!3 Daraus lässt sich schon die ungeheuer schlimme Wirkung der Steuer ersehen. Die Zuckerfabrikanten werden ihren Profit in Sicherheit bringen. Sie machen überall ihren Profit, und die Profitwirtschaft wird auch hier wieder einsetzen. Sie wollen noch Extraprofite herausholen und werden es auch tun.


4 S. S.6594D
5 S. S.6595B
6 S. S.ebd.
7 S. S.6595C