1. Reichstag, Weimarer Republik


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Seite 185

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Vizepräsident Dietrich: das Wort hat der Herr Abgeordnete Höllein:

Höllein, Abgeordneter: Meine Damen und Herren! 4 Mir liegt ob, den Antrag zu begründen, in dem gefordert wird, daß der Ertrag der Biersteuer den Gemeinden zur Verfügung zu stellen sei, entsprechend der Zahl der wohnungsbedürftigen Familien, und zwar zum Bau von Arbeiterwohnungen. Mein Vorredner hat treffend nachgewiesen, wie die Biersteuer als Glied des gewaltigen Steuerraubes, der jetzt am Volke vollzogen wird, weiter zur Verelendung der breiten Masse beitragen und zur körperlichen und geistigen Verkümmerung des Volkes führen muß. Dieser Steuerraub erfolgt in einer Zeit, in der die körperliche Degeneration des deutschen Volkes, vor allen Dingen aber der deutschen Jugend rapide Fortschritte macht. Diese Tatsache läßt es geboten erscheinen, die vorwiegend dem Proletariat abgenommene Biersteuer wenigstens für soziale Zwecke nutzbar zu machen. Wenn wir den Antrag stellen, daß die Erträgnisse aus der Biersteuer den Gemeinden für die Zwecke des Wohnungsbaues zur Verfügung gestellt werden sollen, so deshalb, weil die amtlichen Zahlen über das Wohnungselend einfach ungeheuerlich sind. Das Reichsgesundheitsamt macht in seiner Denkschrift über die gesundheitlichen Verhältnisse des Deutschen Reiches im Jahre 1920/21 sehr lehrreiche Angaben über die Fortschritte der Tuberkulose in Deutschland. Die vorwiegend unter dem heranwachsenden Geschlecht ungeheuerliche Verheerungen anrichtet. Als Ursache der Steigerung der Tuberkulose wird neben der chronischen Unterernährung des deutschen Volkes, die auch durch das Ende des Krieges nicht behoben worden ist, sondern durch Ihre Steuerpolitik aufs neue auf die Spitze getrieben werden, in erster Linie das Wohnungselend genannt.

(Hört! Hört! bei der Kommunistischen Partei.)

Es heißt darin unter anderem:
Neben der Unterernährung des deutschen Volkes bildet einen Grund für die Ausbreitung der Tuberkulose die herrschende Wohnungsnot. Da die Unterbringung der Kranken in den Krankenhäusern wegen der hohen Verpflegungskosten vielfach unmöglich ist,

- hören Sie: wegen der zu hohen Verpflegungskosten unmöglich ist! -

sind die Gesunden gezwungen, in engster Gemeinschaft mit den Tuberkulösen zu leben und sich der Ansteckungsgefahr auszusetzen. In München wurden vor nicht langer Zeit in 900 Haushaltungen von den Fürsorgerinnen des Bezirksamtes und den Kontrolleuren der Ortskrankenkasse 165 Tuberkulöse angetroffen. 1387, das heißt 28 vom Hundert der Einwohner der untersuchten Wohnungen, waren der Ansteckung mit Tuberkulose ausgesetzt.

(Hört! Hört! bei der Kommunistischen Partei.)


4S. 6537D

vorige

Von den 165 Tuberkulösen hatten 59 kein eigenes Bett und teilten ihre Lagerstätte mit gesunden, manchmal auch schon kranken Mitgliedern der Familie.

Dann werden die Zustände in Berlin geschildert, die noch weit himmelschreiender sind. 5 Ich möchte daraus nur den Passus hervorheben, der auf die Wohnungen Bezug hat. Es heißt da: Besonders arg sind viele enge Notwohnungen, ohne Luft und Licht, in Kellern oder unter dem Dach, in Kammern und Verschlägen, die aus Mangel an Besserem Flüchtlingen zugewiesen werden müssen. Aber auch die unbemittelte einheimische Bevölkerung lebt vielfach in Wohnungen, die als Brutstätten der Tuberkulose gelten müssen. Die Knappheit an Kohlen und der hohe Preis erlauben es auch nicht, die Wohnungen genügend zu wärmen.

(Zurufe: Biersteuer!)

- Ich bin bei der Biersteuer. Denn es ist gerade der Zweck unseres Antrags, den Ertrag der Biersteuer für Zwecke des Wohnungsbaues zu verwenden.

Vizepräsident, Dietrich: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Käppler.

Käppler, Abgeordneter: Meine Damen und Herren! 6 Sie werden von mir nicht erwarten, daß ich mich mit den Herren Kommunisten darüber auseinandersetze, ob die zum Erbrechen oft gehörte Behauptung, daß wir alle sozialistischen Grundsätze aufgegeben hätten, richtig oder falsch sind. Nur eins begreife ich nicht. Mit Ausnahme vielleicht der Herren von der Deutschnationalen Partei sind die Kommunisten die schlimmsten Feinde der Sozialdemokratie. Wenigstens muß man das nach ihrem ganzen Benehmen und der Form, mit uns zu diskutieren, annehmen.

(Sehr richtig!)

Vizepräsident Dietrich: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Koenen. 7

Koenen, Abgeordneter: Wir sind bei den Grundsätzen geblieben, 8 die wir früher als Sozialdemokraten mit Ihnen gemeinsam vertreten haben. Ich sagte Ihnen schon vor einigen Tagen, daß nicht einer, sondern zahlreiche Sozialdemokraten uns zugeben, daß die Kommunisten die Positionen der Sozialdemokraten beziehen. Wir sind die alten geblieben, das bestätigen uns die Parteien von rechts ja auch genug. Und weil wir die alten Grundsätze vertreten und Ihr Euch auch Arbeitervertreter nennt und noch das Vertrauen irregeleiteter Arbeiter habt, müssen wir mit Euch Abrechnung halten, so oft es uns


5S. 6538A/B
6S. 6539C
7S. 6540A
8S. 6540C/D

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