|
möglich ist. Und das macht uns wahrlich keine Freude. Es würde uns viel mehr Freude machen, wenn diese Partei, an der ja
leider nichts mehr sozialdemokratisch ist als der Name, sich wieder würdig zeigte und wirkliche sozialdemokratische Politik
alten Stils, marxistische Politik treiben würde. Dann würden wir gemeinsam mit dieser Partei überall, wo nur möglich, die
Interessen des Proletariats vertreten. Aber da Sie es nicht tun und noch ein Teil irregeleiteter Proletarier Ihnen folgt,
müssen wir allerdings rücksichtslos, schonungslos Sie anprangern und wie ein strafender Erzengel vor Sie treten.
(Große Heiterkeit.)
Wir nehmen dieses Prädikat, von einem Sozialdemokraten geprägt, gern entgegen. Wir stehen fest auf den klaren Prinzipien des
Klassenkampfes, des Marxismus, und wir werden uns Ihnen gegenüber weiter scharf und schneidig betätigen, bis die Proletariermassen es merken.
Vizepräsident Dietrich: Wir treten ein in die Beratung des Artikels IV, Mineralwassersteuer.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mittwoch.
Mittwoch, Abgeordneter: Meine Damen und Herren!9 Die Mineralwassersteuer soll 60 Millionen Papiermark einbringen. Ich
weiß nicht, ob die Macher dieser Steuer sich überlegt haben, was von ihr noch übrigbleibt, wenn man die Erhebungskosten
von dem Betrage abzieht, der eingenommen werden soll. Wie denkt man sich denn die Bekämpfung der Trunksucht, wenn man die
Mineralwässer, also diejenigen Dinge, die in erster Linie geeignet sind, dem Bier- und Schnapsgenuß entgegenwirken,
immer weiter verteuert? Wo bleibt die Bekämpfung des Alkoholismus, den sich angeblich gerade bürgerliche, und zwar
fromme bürgerliche Kreise zum Ziel gesetzt haben? Die Städte und gemeinnützigen Vereine richten in den Städten alkoholfreie
Trinkhäuschen und Speisehäuser ein, damit möglichst wenig Bier und Schnaps konsumiert werden soll, und hier beschließt
man im Reichstag, Dinge, die dort aufs notwendigste gebraucht werden, ungeheuer zu verteuern.
Es ist vorhin schon bei der Biersteuer über den Zusammenhang von Alkoholismus und Geschlechtskrankheiten gesprochen worden.
Alle Ärzte wissen, daß der Alkoholgenuß in erster Linie mit eine Ursache der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten ist.
Der Alkoholgenuß wird aber nicht eingedämmt, sondern muß notwendig gefördert werden, wenn die Mineralwässer noch mehr
verteuert werden, als es schon heute der Fall ist.
Die Unabhängigen Sozialdemokratie lehnt dieses Gesetz,10 das zweifellos doch nur ein Gesetz zur Förderung der Trunksucht
sein und als solches bezeichnet werden muß, als unsozial und kulturfeindlich ab.
9S. 6541C
10S. 6541D
vorige
|
(Bravo! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Koenen.11
Koenen, Abgeordneter: Werte Versammlung! Diese Steuer ist eine der kleinen Steuern, mit denen man das Proletariat gerade
in den Stunden, in denen es sich ein wenig von der Arbeit erfrischen und erholen will, quälen zu müssen glaubt. Es ist
eine Steuer, die auf den Durst gelegt ist, und zwar auf die primitivste Erscheinung, deren der menschliche Körper überhaupt fähig ist.
Die Mineralwässer sind ja ein Massenverbrauchsartikel und der Rückgang der Steuer zeigt ganz deutlich, daß wiederum die
Besitzlosen am meisten leiden müssen. 12
Indirekt gibt auch die Regierung durch ihre Erklärung zu, daß es sich bei diesem Objekt der Besteuerung um einen Artikel
des Konsums der breiten Massen handelt.13 Trotzdem will sie versuchen, daraus 20 Millionen herauszuholen.
Nachdem wir im Ausschuß ausdrücklich darauf hingewiesen hatten, daß es sich um Getränke handelt, die die Proletariermassen
brauchen, brachte der Regierungsvertreter es fertig, im Ausschuß den Satz zu prägen: 'Selterswasser ist auch bereits Luxus.
(Hört! Hört! bei den Kommunisten.)
'Wer Durst hat, der kann ja Wasser trinken.'
Diese Regierung läßt also den Proletariern noch nicht einmal das zweifelhafte Vergnügen, Limonade oder Selterswasser zu
trinken. Bei diesem Steuerraubzug verweist sie die proletarischen Massen dreist und kühn darauf, daß sie ja Wasser saufen können.
(Sehr gut! bei den Kommunisten!)
Das kennzeichnet wiederum Ihre Regierung, Ihre Politik und Ihren Reichstag. Aber die Proletarier werden sich diese Redewendung
wohl merken, sie wissen nun, was sie von dieser Regierung und den Parteien, die eine solche Regierung stützen, zu halten haben.
Weiter mache ich darauf aufmerksam, daß entgegen der Anschauung des Regierungsvertreters diese Getränke gerade dann in
betracht kommen, wenn sich einmal in der Woche die Familie der Arbeiter am Sonntagnachmittag wirklich einen Ausflug gönnen.
Sie wissen, daß gewöhnlich Frau und Kinder auf diese Getränke angewiesen sind. Selbst diese wenige Abwechslung, die den
Proletarierfamilien am Sonntagnachmittag übrig blieb, wenn sie den Staub der Landstraße geschluckt haben, wollen Sie ihnen
verbittern und vergällen, indem Sie sie ihnen verteuern. Diese kleinliche Steuer verdient kaum der Erwähnung bei dem
Riesenbankrott, in dem wir stecken. Aber wenn sich die Besitzenden zu dieser kleinen, infamen Steuer auf den Durst der
Kinder und Frauen des Proletariats
11S. 6542A
12S. 6542B
13S. 6542D
nächste
|