1. Reichstag, Weimarer Republik


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haben braucht, vor der Regiekunst der Parteien, die diese Regierung tragen, habe ich allerlei Respekt.

(Sehr gut! Bei der Deutschvölkischen Freiheitspartei.)

Denn wie diese ganze Aussprache im hohen Hause über die außerordentlich ernste Frage, um die sich diese Interpellation schließlich dreht, aufgemacht worden ist, ist Regiekunst,

(sehr wahr, bei der Deutschvölkischen Freiheitspartei.)

die sich vor allen Dingen stützt, wie mir scheint, auf das Vertrauen in die Tatsache, daß Sie, meine Herren der Mehrheit, allerdings die Presse beherrschen beziehungsweise daß die Presse mit Ihnen absolut an demselben Strange zieht - die ganze Presse, nicht nur die volljüdische und halbjüdische, sondern auch bis hinein in die Reihen der nationalen Parteien. Könnten Sie Ihre Regie nicht auf dieses Vertrauen gründen, meine Herren, - ich glaube nicht, daß Herr Severin auf seinem Platz die ganze Zeit so ruhig, brav und sorglos hätte sitzen können, und daß auch der Vertreter der hohen Reichsregierung so absolut sicher bei allen diesen Auseinandersetzungen schweigend und gänzlich abgeneigt sich zeigend dort auf dem hohen Balkone hätte thronen können. Der Zweck7, warum ich heute noch einmal das Wort zu ergreifen mir vorgenommen habe, liegt darin, daß ich allerdings der Reichsregierung gegenüber ein paar ganz präzise Fragen zu stellen habe. Ich frage die Reichsregierung, ob es nicht wahr ist, daß sie über alle unsere Organisationen genau Bescheid wussten.

(Lebhafte Rufe links: Hört! Hört!)

Ich verzichte in diesem Augenblick darauf, die Belege, unter Umständen die Dokumente vorzulegen, die den Beweis darüber erbringen würden.

(Hört! Hört! Und Zurufe links.)

Aber nun richte ich die Frage an die Reichsregierung: wie kann sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren, wenn sie darüber bescheid weiß und wenn sie nach der Verfassung das Recht hat, einzuschreiten, schweigend, wie der Herr Minister auch hier die ganze Zeit über schweigend dagesessen hat, das Vorgehen des Herrn Severing gegen unschuldige Männer zu dulden?

(Lachen und Zurufe links.)

Sie wusste, daß diese Männer in keiner Weise Hochverräter sind, daß diese Männer auch nicht im Geringsten gegen die Reichsregierung arbeiteten, daß sie im Gegenteil bereit waren, für die Regierung einzutreten.

(Lebhafte Zustimmung bei der Deutschvölkischen Freiheitspartei. - Hört! Hört! Links.)

Wenn sich die Reichsregierung sich demgegenüber schweigend verhalten hat, wenn sie nicht einen Finger gerührt hat, so finde ich keine andere Erklärung dafür, als die: sie hat sich darauf verlassen, daß unsere Männer aus Rücksichten, die vielleicht zu weit gehen, schweigen würden, daß sie in dieser Zeit die Reichsregierung nicht in Verlegenheit bringen würden.

(Lebhafte Rufe links: Hört! Hört!)

Aber es ist ja nichts mehr niedrig und gemein genug8, was nicht heute in der inneren Politik vorkommt. Schämt man sich doch nicht einmal, offenbar die Hilfe der Franzosen in Anspruch zu nehmen, um die Führer der


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Freiheitsbewegung möglichst unschädlich zu machen, den angeblichen Kadaver, der schon fault und stinkt, vor dem man aber doch eine geradezu lächerliche Angst zu haben scheint. Herr Scheidemann hat das ja so beredt in einem Artikel in dem jüdischen Abendblatt zum Ausdruck gebracht,

(Lachen)

wie man die völkische Gefahr fürchtet. Oh, darin haben Sie recht, Herr Scheidemann, es ist die einzige Gefahr, die Sie überhaupt noch zu fürchten haben. Von den bürgerlichen Parteien, die neulich hier so tapfer Ihrer Obstruktion gewichen sind, haben Sie allerdings wohl nicht viel zu fürchten; das ist richtig. Nun, von uns sollen Sie was zu fürchten haben, wenn auch nicht das, was Sie uns andichten.

(Lachen bei den Vereinigten Sozialdemokraten.)

Ich wende mich aber nicht nur an die Reichsregierung, sondern an die bürgerlichen Parteien. Meine Damen und Herren! Es ist Ihre Nachbarwand, die brennt. Es ist ungeheuerlich, mit welch einer Gleichgültigkeit weite nationale Kreise dem geradezu mittelalterlichen Unfug gegenüberstehen, der mit diesen Severingschen Verhaftungen im Deutschen Reich getrieben wird. Dutzende deutscher Männer, die weiter gar nichts auf dem Schuldkonto stehen haben, als daß sie Vorstandsmitglieder oder auch nur Mitglieder der Deutschvölkischen Freiheitspartei sind, sind wochenlang hinter Schloß und Riegel gesetzt worden und sitzen heute noch zum großen Teil.

(Zurufe von den Kommunisten: Die Arbeiter auch!)

- Treten Sie für Ihre Kreise ein, ich trete für meine ein. Es handelt sich hier nicht um Parteisachen, sondern um einfaches Menschentum. Heute noch hat ein Untersuchungsrichter in Moabit einen unserer Freunde aus der Untersuchungshaft entlassen, der sieben Wochen gesessen hat, und er hat die Worte an ihn gerichtet: Ich weiß eigentlich gar nicht, wofür man Sie verhaftet hat.

(Zurufe von den Vereinigten Sozialdemokraten.)

Ist das noch ein Rechtsstaat? Ich frage die Reichsregierung, ich frage insbesondere den Herrn Reichsjustizminister, ob er sich nicht auch dafür verantwortlich fühlt, daß eine derartige mittelalterliche Justiz im Deutschen Reich, eine derartige ungeheuerliche Vergewaltigung der Persönlichkeit möglich ist. Die Reichsregierung schweigt. Aber was tun denn die bürgerlichen Parteien? Meine Damen und Herren! Sie gehen in die Sonne hinein und freuen sich an dem blühenden Frühling und lassen Dutzende von Männern, die Ihnen innerlich nahe stehen, hinter schwedischen Gardinen schmachten. Meine Damen und Herren9! Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich hier in einem gewissen Zorn rede. Wenn Ihre eigenen Parteifreunde in unserer Lage wären, wenn Ihre Freunde es erleben müssten, wie Verbrecher behandelt zu werden, Sie würden vermutlich noch ganz anders auftreten als ich in dieser Stunde. Jetzt aber rührt sich offenbar bei Ihnen innerlich nichts, sondern hier wird eine derartige langweilige Debatte geführt, als ob es sich um irgendein ganz nebensächliches Problem handelte. Da ist es an der Zeit, daß von dieser Stelle aus auch einmal ein furor teutonicus ausbricht!


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