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führenden Parteien gewesen, schon seit langer, langer Zeit den Gedanken zu fassen und ihn in die Tat umzusetzen, wie es
möglich ist, der großen ungeheuerlichen Notlage des deutschen Volkes zu steuern, wie es möglich ist, auf dem Gebiet der
Ernährung, der Volksgesundheit, des Wohnungswesens und all der Fragen, die zu einem himmelschreienden Notstand im deutschen
Volk geworden sind, Abhilfe zu schaffen. Die Regierung und die sie unterstützenden Parteien haben diesen Weg nicht gewählt.
Vie Jahre lang hat die Regierung dem Elend und der Not des deutschen Volkes tatenlos gegenübergestanden, und wenn Sie sagen,
daß doch das Gesetz beschlossen und Maßnahmen gegen Wucher ergriffen sind, daß das Wohnungsgesetz, das Reichsmietengesetz und
dergleichen Gesetze mehr verabschiedet worden sind, so frage ich Sie: wo sind denn die Wirkungen dieser Gesetze? Ist durch ein
einziges dieser Gesetze oder auch durch ihre Gesamtheit, die doch den Zweck haben sollen, die Notlage des deutschen Volkes
abzuhelfen, auch nur irgend etwas, auch nur das Schwarze unter dem Nagel geändert worden an dem Elend, unter dem Millionen
und aber Millionen deutscher Volksgenossen zu leiden haben? Nichts ist geschehen, meine Damen und Herren, nicht das mindeste
der Not ist beseitigt oder gelindert worden! Im Gegenteil: die Zahlen, die uns hier von der Regierung bei der Beratung des
Etats des Innenministeriums vorgetragen wurden, ebenso die Zahlen, die der Präsident des Reichsgesundheitsamts hier vorgetragen,
veranschaulichen das ungeheuerliche, in Worten kaum zu fassende Elend, so daß man sich wirklich fragen muß: wie ist es möglich,
daß angesichts der Feststellung und der Erkenntnis dieser Notlage die Regierungen bisher völlig versagt haben und sich nur damit
begnügen, rein trocken bureaukratisch festzustellen: Hunderttausende gehen dem Hungertode entgegen! - und was, wo sich jedem
Menschen vor Empörung über die herrschenden Zustände das Innerste umkrempeln müsste! Es wird nur einfach schematisch und
bureaukratisch ohne innere Erregung gesagt: Tausende und aber Tausende von Kindern haben kein Hemd auf dem Leibe, Tausende
und aber tausende von Kindern können nicht eingeschult werden, weil sie unterernährt sind, und was sonst noch der Ausdruck
der ungeheuren Not im deutschen Volke ist.
Was ist denn bisher geschehen und was soll vor allen Dingen geschehen, um der Notlage des deutschen Volkes zu steuern?
Man will Verschärfung mit Bezug auf die Genehmigung der Konzessionserteilung in der Gast- und Schankwirtschaft einführen;
man will den Alkoholmissbrauch bekämpfen. Aber man geht auch da nicht dem Übel an die Wurzel. Man unterbindet nicht den
Missbrauch der durch den Verbrauch von Getreide zur Herstellung des Bieres und Branntweins mit einem wichtigen Nahrungsmittel
getrieben wird. Man denkt nicht daran, daß Millionen und aber Millionen Tonnen Brotgetreide, Gerste und dergleichen in
den Brauereien vermälzt und zur Herstellung alkoholhaltiger Getränke verarbeitet werden. Man bleibt an der Oberfläche,
man sucht die Schlemmerei dadurch zu bekämpfen, daß man die Klubs unter schärfere Kontrolle nimmt, das heißt: auch nur
dem Buchstaben nach. Denn schon jetzt besteht die Möglichkeit, den Klubs auf den Leib zu rücken, und wir haben gesehen,
daß in dem Augenblick, wo die
vorige
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Polizeistunde beschränkt wurde, die Klubs wie Pilze aus der Erde schossen. Es ist eben keine Macht vorhanden, die mit eisernem
Besen ausfegt und diesen Klubs die Existenz unmöglich macht. Schieberei, Spielerei, Wucherei, alles wächst auf demselben Holz,
alles wächst auf demselben Boden, wächst auf derselben Grundlage, das ist der Urfeind des deutschen Volkes, die Urquelle der
Not des deutschen Volkes, das ist die kapitalistische Wirtschaftsweise,
(lebhafte Zustimmung bei den Kommunisten)
bei der lediglich des Profits wegen die Betriebe aufrechterhalten werden, wo man sich den Teufel darum kümmert, ob Millionen
und aber Millionen dem Elend preisgegeben werden oder zugrunde gehen, wo die Kapitalisten nur darauf sehen, daß sie selbst leben,
nur danach streben, daß sie selbst über große Profite verfügen, um ein Herrenleben in Saus und Braus führen zu können.
(Sehr richtig! bei den Kommunisten.)
An diesen Dingen ändern die Bestimmungen, die Sie hier erlassen wollen: die Einschränkung der Gastwirtschaften, die
Einschränkung des Alkoholgenusses Jugendlicher, die Unterkontrollestellung der Klubs und dergleichen, nicht das Geringste;
sie ändern nichts an den Tatsachen, die ich Ihnen eben kurz zu schildern versucht habe.
Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brodauf.12
Brodauf, Abgeordneter: Meine Damen und Herren. Wenn Herr Bruhn13 nicht darauf verzichten zu können glaubt, die Stellungnahme,
mit der er im Ausschuß unterlegen war, im Plenum noch durch einen Antrag darzulegen, so sehen wir uns genötigt, dies auch
unsererseits zu tun, und zwar deshalb, weil der Antrag Bruhn eine Idee enthält, die wir für richtig halten.
Der Unterschied zwischen beiden Anträgen liegt klar zu tage. Er sei noch einmal präzisiert. Der Antrag Bruhn wendet sich
ausschließlich gegen die Ostjuden, während sich unser Antrag auf die Ausländer im allgemeinen bezieht. Überflüssig soll
er sein, sagt Herr Abgeordneter Sollmann, und es ist wohl auch zuzugeben, daß der Art. V nach seinem Wortlaut an und für
sich die Anwendung der Bestimmung auch gegen Ausländer schon mit einschließt. Die glatte Ablehnung des Antrags Bruhn würde
in weiten Kreisen der Bevölkerung deshalb nicht verstanden werden, weil doch die Überzeugung allenthalben besteht, daß
Ausländer, die in den letzten Jahren zu uns gekommen sind, hinsichtlich der Wohnungsbeschaffung mehr Entgegenkommen
gefunden haben, als es bei unserer ungeheuren Wohnungsnot angezeigt gewesen wäre.
(Sehr richtig! Bei den Deutschnationalen.)
Das ungeheure Wohnungselend beruht schließlich zum großen Teil darauf, daß sich Ausländer in sehr großer Zahl bei uns anzusiedeln
verstanden haben. Aber der Antrag Bruhn in dieser Form können wir nicht annehmen. Herr Minister Oeser hat wohl schon darauf
hingewiesen, daß ja der Antrag Bruhn direkt eine Privilegierung aller anderen Ausländer außer Ostjuden
12S. 9892C
13S. 9892D
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