1. Reichstag, Weimarer Republik


Zurück zur Titelseite oder Zurück zur Homepage


Seite 227

A B

- wundern Sie sich dann, meine Damen und Herren, wenn eine Atmosphäre geschaffen ist, in der auch der letzte Funke politischer Vernunft erloschen ist.

(Lebhafte Zustimmung.)

Ich will mich mit dem Briefe sonst nicht weiter beschäftigen und nur den Schluß vorlesen:

Im Guten habt ihr Männer des Erfüllungswahnsinns auf die Stimme derer nicht hören wollen, die von der Fortsetzung der Wahnsinnspolitik abrieten. So nehme denn das harte Verhängnis seinen Lauf, auf daß das Vaterland gedeihe!

(Andauernde stürmische Rufe: Hört! Hört! Erregte Pfuirufe. Große Erregung und wiederholte Rufe von der äußersten Linken: Dieser Verbrecher Wulle!)

Wollen wir aus dieser Atmosphäre wieder heraus, wollen wir gesunden, wollen wir aus diesem Elend herauskommen, dann muß das System des politischen Mordes endlich enden, das die politische Ohnmacht eines Volkes offenbart.

(Lebhafte Zustimmung.)

Und wie kann sie entgiftet werden? 22 Meine Damen und Herren! Sie können mir gewiß zurufen: das ist eine Frage, die man zunächst an die Alliierten zu stellen hat! Nun, ich war Zeuge bedeutsamer Unterhaltungen unseres ermordeten Freundes in Genua vor den mächtigsten der alliierten Staatsmänner. Einen beredteren Anwalt für die Freiheit des deutschen Volkes als Herrn Dr. Rathenau hätten Sie in ganz Deutschland nicht finden können! Ich war Teilnehmer und Zeuge eines Gesprächs mit dem ersten englischen Minister Lloyd George, in dessen Verlauf Dr. Rathenau ganz klar und ernsthaft sagte: "unter dem System, unter dem uns zurzeit die Alliierten halten, kann das deutsche Volk nicht leben!"

(Stürmische Rufe: Hört! Hört!)

Niemals habe ich einen Mann edlere vaterländische Arbeit verrichten sehen als Dr. Rathenau. Was aber war nach der rechtsvölkischen Presse sein Motiv? Ja, meine Damen und Herren, wenn ich in diesem Briefe lese, damit er und seine Judensippschaft sich bereichern können,

(stürmische Pfuirufe, andauernde wachsende Erregung; Rufe links: Lump! Schurke!)

Dann können Sie wohl verstehen, daß unter dieser völkischen Verheerung, unter der wir leiden, unser Vaterland rettungslos dem Untergang entgegentreiben muß. 24 Ich war vorher beim Kirchgang Zeuge des Aufmarsches der großen Massen zur Demonstration im Lustgarten. Da war Ordnung, da war Disziplin. Es war eine Ruhe; aber mögen sich die Kreise in Deutschland durch diese äußere Ruhe nicht täuschen lassen.

(Sehr richtig! links.)

In der Tiefe droht ein Vulkan!

(Stürmischer Beifall und Händeklatschen im Hause und auf den Tribünen.)


21S. 8056A
22S. 8056B

vorige

Ich muß hier das Wort wiederholen, das ich seinerzeit gesprochen habe, daß in einem wahnwitzigen Entscheidungskampf, den viele von Ihnen gewissenlos herbeiführen, uns unsere Pflicht dahin führt, wo die großen Scharen des arbeitenden Volkes stehen.

(Erneuter lebhafter Beifall.)

In jeder Stunde, meine Damen und Herren, Demokratie! 23 Aber nicht Demokratie, die auf den Tisch schlägt und sagt: wir sind an der Macht! - nein, sondern jene Demokratie, die geduldig in jeder Lage für das eigene unglückliche Vaterland eine Förderung der Freiheit sucht! In diesem Sinne, meine Damen und Herren, Mitarbeite! In diesem Sinne müssen alle Hände, muß jeder Mund sich regen, um endlich in Deutschland diese Atmosphäre des Mordes, des Zankes, der Vergiftung zu zerstören! Da steht (nach rechts) der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. - Da steht der Feind - und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!

(Stürmischer langanhaltender Beifall und Händeklatschen in der Mitte und links und auf sämtlichen Tribünen. - Große langandauernde Bewegung.)

Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Heinze. -

(Unruhe.)

- Ich bitte um Ruhe!

Dr. Heinze, Abgeordneter:24 In der scharfen Verurteilung der entsetzlichen Mordtat von gestern stimmen wir mit dem Herrn Reichskanzler und den übrigen Rednern durchweg überein. Was die Persönlichkeit des ermordeten Minister angeht, so mag man über die objektive Zweckmäßigkeit seiner Politik streiten. In unseren Kreisen ist aber kein Streit über die außergewöhnliche Bedeutung des Mannes,

(sehr wahr! bei der Deutschen Volkspartei)

über seine sittliche Größe, über seine kulturelle Bildung, über seine Geistesgaben und über die Hingebung, mit der er sich bemühte, seitdem er an der Spitze unserer auswärtigen Verwaltung stand, das Wohl Deutschlands zu fördern.

(Sehr richtig! bei der Deutschen Volkspartei.)

Meine Damen und Herren! Wir haben mit vollem Herzen an der gestrigen Trauerkundgebung teilgenommen. Wir haben nur bedauert, daß sie durch Szenen gestört worden ist, von denen sich der Verstorbene am allerersten abgewandt hätte.

(Lebhafte Zustimmung rechts. - Zurufe links.)

Daß unter dem Eindruck einer derartigen Tat, unter dem wir alle noch stehen, aus den weiten Kreisen des Volkes der Ruf ertönt nach Abhilfe gegen die Wiederholung, ist selbstverständlich. In Ausnahmezuständen 25 muß mit Ausnahmemaßregeln vorgegangen werden. Die gewöhnlichen Gesetze


23S. 5058A
24S. 5058B
25S. 5058C

nächste