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Präsident: Der Herr Redner hat in einer Zeit, in der ich noch das Präsidium führte, gesagt, daß dem Herrn Abgeordneten
Hergt das Kainszeichen des Mordes auf seine Stirn geschrieben sei.18
(Sehr richtig! bei den Unabhängigen
Sozialdemokraten.)
Meine Damen und Herren! Das ist ein grober Verstoß gegen die Ordnung des Hauses, den ich hiermit rüge.
(Zuruf links: Aber die Wahrheit!)
Das Wort hat der Herr Reichskanzler.
Dr. Wirth, Reichskanzler: Meine Damen und Herren! Trotz der Leere des Hauses oder gerade deswegen will ich einige
ruhige Minuten benutzen, um Ihre Aufmerksamkeit zu erbitten. Es war nicht möglich gestern mittag und gestern abend den
Werdegang des Herrn Minister Rathenau und seine Verdienste um das deutsche Volk, den deutschen Staat und die deutsche Republik ausgiebig zu würdigen.
Meine Damen und Herren, ich bin der Rede des Herrn Abgeordneten Dr. Hergt mit steigender Enttäuschung gefolgt. Ich habe
erwartet,19 daß heute nicht nur eine Verurteilung des Mordes an sich erfolgt, sondern daß diese Gelegenheit benützt wird,
einen Schnitt zu machen gegenüber denen, gegen die sich die leidenschaftlichen Anklagen des Volkes durch ganz Deutschland
erheben. Ich habe erwartet, daß von dieser Seite heute ein Wörtchen falle, um einmal auch die in Ihren eignen Reihen zu
einer gewissen Ordnung zu rufen, die an der Entwicklung einer Mordatmosphäre in Deutschland zweifellos persönlich Schuld tragen.
(Sehr richtig! links und im Zentrum.)
Wie weit die Vergiftung in Deutschland geht, will ich einmal an einem Beispiel zeigen. Meine Damen und Herren, da glaubt
nun ein Reichstagskollege folgendes schreiben zu können:20
(Zuruf links: Namen nenne!)
- der Name kommt noch. - Er spricht in seinem Blatte von Forderungen über neue Beträge, die notwendig sind, um die Arbeiter und
Beamten in ihren Bezügen aufzubessern. Dann fährt der betreffende Kollege fort:
Die jetzige Regierung ist in Wirklichkeit nur eine, vom Deutschen Reich zwar bezahlte, Angestellte der Entente, die ihre
Forderungen und Vorschriften einfach zu erfüllen hat; sonst wird sie einfach auf die Straße gesetzt und ist brotlos.
(Stürmische Rufe: Hört! Hört! und erregte
Pfuirufe. - Große Unruhe.)
Können Sie sich eine größere Entwürdigung von Menschen denken, die, wie wir, seit Jahresfrist an dieser Stelle stehen? Steigt Ihnen
(zu den Deutschnationalen) da nicht die Schamröte ins Gesicht?
(Anhaltende Rufe links: Wer ist das? - Unruhe.)
18 S. 8054D
19 S. 8055A
20 S. 8055B
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- Das "Deutsche Tageblatt", Herausgeber Reinhold Wulle. Aber, meine Damen und Herren, die Sache hat noch eine größere Bedeutung!
Hier liegt nicht nur eine redaktionelle Verantwortung vor, sondern dieser Artikel mit den schmählichen Beleidigungen ist ausdrücklich
geschrieben von Reinhold Wulle, Mitglied des Reichstags.
(Erneute erregte Pfuirufe.)
das ist Ihr Kollege (zu den Deutschnationalen).
(Anhaltende große Unruhe und erregte Zurufe
links.)
Ich darf fortfahren. Nun kommt er zum Schluß und sagt von uns, die wir hier seien, um unser Brot zu verdienen, die wir Ententeknechte seien,
die wir deshalb die Politik machen, damit wir der Entente gefallen und dadurch eine Anstellung haben:
… nur daß diese Kreise von der Arbeiterschaft nicht zu dem Schluß kommen, daß das ganze System zum Teufel gejagt werden muß, weil wir in
Berlin eine deutsche Regierung, aber keine Ententekommission brauchen.
Meine Damen und Herren! Wo ist ein Wort gefallen im Laufe des Jahres von Ihrer Seite gegen das Treiben derjenigen, die die Mordatmosphäre
in Deutschland tatsächlich geschaffen haben?!
(Lebhafter Beifall und Zurufe.)
Da wundern Sie sich über die Verwilderung der Sitten, die damit eingetreten ist?
(Erneute stürmische Zustimmung.)
Wir haben in Deutschland geradezu eine politische Vertiertheit.
(Sehr wahr! Sehr wahr!)
Ich habe die Briefe gelesen, die die unglückliche Frau Erzberger bekommen hat. Wenn Sie, meine Herren, diese Briefe gesehen hätten -
die Frau lehnt es ab sie der Öffentlichkeit preiszugeben -, wenn Sie wüßten, wie man diese Frau, die den Mann verloren hat, gemartert
hat, wie man in diesen Briefen der Frau mitteilt, daß man die Grabstätte des Mannes beschmutzen will, nur um Rache zu üben - -
(andauernde steigende Erregung auf der Linken.
Unruhe und erregte Zurufe: Schufte!)
- Meine Herren (nach links), halten Sie doch ein wenig ein.
(Andauernde Erregung und Rufe. - Glocke des
Präsidenten.)
Präsident: Meine Herren (nach links), behalten Sie trotzdem die Ruhe!
Dr. Wirth, Reichskanzler: Ich bitte die Vertreter der äußersten Linken, bei den kommenden Ausführungen, die ich zu machen habe,
sich etwas zurückzuhalten! - Wundern Sie (nach rechts) sich, wenn unter dem Einfluß der Erzeugnisse Ihrer Presse der letzten
Tage Briefe an mich kommen, wie ich hier einen von gestern in der Hand habe, der die Überschrift trägt: "Am Tage der Hinrichtung der Dr. Rathenaus!"
(Lebhafte Rufe: Hört! Hört!)
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