1. Reichstag, Weimarer Republik


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seines Bruders Heinrich Tillessen, das auf seinem Schreibtisch stand, in die Hand und zeigte es mit den Worten: Das ist mein Brüderchen, der hat das erste Schwein gekillt.

(Stürmische Rufe bei den Kommunisten, bei den Unabhängigen Sozialdemokraten, bei den Sozial- demokraten, bei den deutschen Demokraten und im Zentrum. - Pfuirufe im Zentrum. - Zurufe von den Unabhängigen Sozialdemokraten: Die Moral, die Sie nach dem Ministertisch gepredigt haben!)

Der Neugeworbene erhielt den Auftrag nach München zu fahren. Am Bahnhof drückte Herr Tillessen ihm 2000 M in bar und ein Billet für den D-Zug nach München - natürlich! - in die Hand.

(Hört! Hört! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Hier wurde er zwei Tage später, am 5. Mai, beim Kapitän a D. Hoffmann in München, bei Herrn Dr. Schuster wohnhaft, eingeführt, der offen bekannte, daß sich hier die Leitung der Organisation Consul befand, die sich allerdings in verschiedene Unterabteilungen gliedere. Am 5. Mai erhielt der Neugeworbene weitere 2000 Mark in bar, und nun kam das Gespräch wieder auf die Provokationen. Herr Hoffmann erklärte, daß das beste Mittel zur Förderung der Monarchie die Beseitigung hervorragender links gerichteter Führer sei.

(Hört! Hört! bei den Sozialdemokraten und auf der äußersten Linken.)

Nachdem Erzberger erledigt, käme vielleicht Walther Rathenau und auch Scheidemann in Betracht.

(Lebhafte Rufe bei den Sozialdemokraten und auf der äußersten Linken: Hört! Hört!)

Am 27. Mai erhielt der gewonnene, nachdem er befragt war, ob er in Cassel bekannt sei, ob er das dortige Gewerkschaftshaus und ob er Scheidemann kenne, den Auftrag, einen ihm dem Namen nach unbekannt gebliebenen Herrn nach Cassel zu begleiten und ihn über die örtlichen Verhältnisse zu informieren.

(Hört! Hört! links.)

Es besteht für mich kein Zweifel, daß das der Mörder war, der Scheidemann zu beseitigen bestimmt war, dem die Tat nicht gelang, die dann der deutschnationalen Presse Gelegenheit bot zu Hohn und Spott über Scheidemann und dem Chefredakteur der "Deutschen Zeitung", Herrn Paul Becker, dem Mitglied der deutschnationalen Fraktion des Landtages, Anlaß zu einem Artikel gab: Das Attentat mit der Klistierspritze. Meine Damen und Herren! Wir fordern die Verfolgung und die Aushebung dieser Geheimor-ganisationen, rücksichtslose Verhaftung der Verdächtigen, gleichviel, ob sie aktiv oder als Geldgeber der Mordorganisationen sich betätigen, Verbot der Regimentsfeiern und Appelle, Verbot der schwarz-weiß-roten Mörderfahne, Reorganisation vor allen Dingen der Reichswehr und Reinigung der Schupo von allen reaktionären Elementen.

(Sehr richtig! links.)


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Wir fordern die Reorganisation der Justiz und besonders der Staatsanwaltschaft. 6

(Sehr richtig! links.)

Meine Herren von der Regierung, meine Damen und Herren! Jetzt geht's ums Ganze, jetzt muß zugegriffen werden! Darüber ist ein Zweifel nicht mehr möglich.

(Zuruf von den Kommunisten: Wort halten!)

- Ich habe mein Wort noch immer gehalten. Zum Schluß aber richte ich an die Arbeiterschaft den Mahnruf: Die Erklärungen Tillessens, die ich der Öffentlichkeit bekannt gegeben habe, zeigen die Hoffnung der Reaktion auf Putsche und Gewalttaten. Ihr Arbeiter, laßt Euch nicht provozieren, macht die Hoffnungen der Reaktion auf Putsche und Gewalttaten zuschanden, schließt Euch zusammen zum Schutz der Republik! In Eurer Hand liegt die Zukunft unseres Volkes. Nieder mit der Reaktion! Es lebe die Republik!

(Stürmischer Beifall und Händeklatschen links.)

Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Marx.

Marx, Abgeordneter:7 Meine Damen und Herren! Eine ungeheuerliche Tat hat nicht nur die Kreise unserer Parteien, hat nicht nur das deutsche Volk in seiner Gesamtheit, hat auch weite Kreise des Auslandes in außerordentlich hohem Maße erschüttert. Wir sind in der Ära der politischen Morde. Das kann für keinen, die Verhältnisse und die Entwicklung der Dinge ruhig Überschauenden irgendwie zweifelhaft sein. In einem solchen Umfang wie in den letzten 2 und 3 Jahren sind politische Morde wohl noch nie in der deutschen Geschichte, wenigstens in den letzten Jahrzehnten, vorgekommen. Den Ereignissen der 70er und 80er Jahren haftete die Tatsache an, daß es sich dort durchgehends um einzelne, durch irgendwelche Ideen verschrobene Köpfe handelte, denen man, abgesehen von einzelnen Fällen, immerhin die Beurteilung mildernd an die Seite stellen konnte: es waren Leute, denen es an Bildung, an kulturellem Fortschritt durchaus gemangelt hat, es waren Leute, die Impulsen ihrer Umgebung überaus leicht zugänglich schienen. Diejenigen aber, die sich in den letzten Jahren an politischen Morden beteiligt haben - ich gestehe offen zu, das ist ein Beweis für den überaus traurigen moralischen Niedergang der deutschen Kultur - sind Leute, die den sogenannten besseren Ständen, die einer höheren Kulturstufe angehören, denen man als belastenden Umstand zuschreiben muß, daß sie Leute von Bildung sind, von denen man daher ernste Pflichterfüllung und ernste Gewissenserforschung über ihr Tun und Lassen verlangen könnte. Meines Erachtens handelt es sich bei der Betrachtung dieses Falles um mehr als um die Schuld der Deutschnationalen Partei oder irgendeiner Partei dieses Hauses. Es handelt sich mehr als um die Person


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