Mittwoch den 22. März 1922
Vizepräsident Dr. Rießer: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Breitscheid.
Dr. Breitscheid, Abgeordneter: Meine Damen und Herren!1 Das uns vorliegende Gesetz ist von so großer Wichtigkeit und die
Belastung, die es für die breiten Massen der Bevölkerung in sich schließt, so ungeheuer, daß es sich wohl empfiehlt, einige
ausführliche Bemerkungen zu dieser Vorlage zu machen.
Es geht selbst bei der finanziellen Notlage2 des deutschen Volkes nicht an, daß man bei einer Steuer, die man vorschlägt,
allein auf ihren möglichen Ertrag sieht. Käme es nur darauf an, so wäre es ja vielleicht das idealste, eine allgemeine
Kopfsteuer in entsprechender Höhe auszuschreiben. Auch sie würde einen sehr nennenswerten Betrag ergeben. Ein moderner
Staat aber, und dazu noch einer, der sich so viel auf seinen sozialen Einschlag zugute tut, hat bei der Auswahl der
Steuern andere Voraussetzungen zu erfüllen als diese. Unter diesen Voraussetzungen stehen an der Spitze die Abstufung
der Steuern nach der Leistungsfähigkeit und die der möglichst geringen Belästigung des wirtschaftlichen Lebens. Keiner
dieser Voraussetzungen entspricht der Umsatzsteuer. Es ist der denkbar primitivste und roheste von allen Steuerformen überhaupt.
(Sehr richtig! Bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)
Sie belastet den Übergang einer Ware von der einen Hand in die andere, ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Kraft des
Empfängers oder des Abgebers der Ware. Sie belastet diesen Übergang ohne Rücksicht auf den Wert der Ware, ohne Rücksicht
auf das Bedürfnis des Abnehmers und den Grad der wirtschaftlichen Notwendigkeit, die bei dem Übergang auf der einen oder
anderen Seite vorhanden ist.
Ich möchte zur Illustration nur zitieren,3 was der Herr Abgeordnete Keil von der Sozialdemokratischen Partei 1918 im
Reichstag über das Prinzip der Umsatzsteuer überhaupt gesagt hat. Er führte aus:
Die Umsatzsteuer ist eine Massen-verbrauchssteuer größten Stils, die auch vor der Belastung der allernotwendigsten
Lebensmittel nicht halt macht. Es ist eine rohe Steuer, weil sie nichts weiter als den Umsatz besteuert; nicht nach dem
Gewinn, nicht nach der volkswirtschaftlichen
1Bd. 353,S. 6468A
2 S. S. 6468B
2 S. S. 6468c
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Bedeutung, nicht nach der Notwendigkeit, nicht nach der Entbehrlichkeit eines Umsatzes fragt.
Von diesem Gesichtspunkten ausgehend gelangte damals die Sozialdemokratische Partei zur grundsätzlichen Ablehnung dieser Steuer.
Heute hat sich das alles geändert. Die Sozialdemokratische Partei hat schon bei der Erhöhung im Jahre 1919 den früher beschrittenen Weg verlassen.
Der Herr Abgeordnete Dr. Helfferich hat vor einigen Tagen hier sehr schöne und interessante Ausführungen über die prinzipielle
Opposition gemacht. In diesem Falle aber beginnt sie, um mich vorsichtig auszudrücken, sich schon recht nachgiebig zu zeigen;
selbstverständlich, da bei einer Ablehnung der Erhöhung der Umsatzsteuer natürlich auf eine stärkere Besitzbesteuerung
zurückgegriffen werden müßte, und diese Gefahr ist so groß, daß die grundsätzliche Opposition in dieser Situation nicht
aufrechterhalten werden kann.
Diese grundsätzliche Opposition der Deutschnationalen richtet sich ja in der Tat nicht ganz allgemein gegen das, was die
Partei das System Wirth zu nennen beliebt, sondern sie richtet sich nur gegen jede Antastung der Rechte und des Besitzes
der von der Deutschnationalen Volkspartei vertretenen Klassen, und ich bin überzeugt, daß die Herren auf der äußersten
Rechten auch gegen die von ihnen so lebhaft bekämpfte Erfüllungspolitik in dem Augenblick wenig oder gar nichts mehr
einzuwenden haben, wenn sie sicher sind, daß die Lasten dieser Erfüllungspolitik vom Proletariat getragen werden.
(Abgeordneter Dr. Helfferich: Das ist eine unerhörte Behauptung! Beweise dafür! Trauen Sie uns keine Niedertracht zu, die anderswo zu Hause ist!)
- Die Beweise dafür liegen, wie ich Ihnen schon sagte, darin, daß Ihre Haltung zum Umsatzsteuergesetz im Widerspruch mit
dem steht, was Sie von der prinzipiellen Bekämpfung des Systems Wirth gesagt haben. Die prinzipielle Bekämpfung der
Erfüllungspolitik hört in demselben Augenblick auf, wo Sie einer Steuer zustimmen können, die tatsächlich in der allergrößten
Hauptsache eine Belastung der arbeitenden Schichten des deutschen Volkes ist.
Unmittelbar abwälzbare indirekte Steuern bilden den Kernpunkt, den Mittelpunkt der gesamten Finanzreform. 4
4S. 6469A
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