1. Reichstag, Weimarer Republi


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mal, wir Deutsche sind an Intelligenz, an Fleiß, an Klugheit, an Kultur so ungeheuer viel mehr wert als die Polen, also werdet deutsch, stimmt deutsch ab. Es wäre hundertmal richtiger gewesen, wenn man bei dieser Propaganda von der Erkenntnis ausgegangen wäre: das oberschlesische Problem ist in seinem Urgrund kein nationales, sondern ein soziales Problem.

(Sehr wahr! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Der oberschlesische Arbeiter wurde polnisch, weil er den Unternehmer als deutsch ansah, und diesen sozialen Gegensatz haben die polnischen Agitatoren und Hetzer ausgenutzt, um die nationalistische Bewegung zu entfachen. Wenn Sie jetzt zu den oberschlesischen Arbeitern gegangen wären und hätten weniger von der sogenannten deutschen und polnischen Kultur und mehr von der deutschen Sozialpolitik, mehr von deutschem sozialen Verständnis gesprochen, wenn Sie zu Ihnen gegangen wären und von dem Achtstundentag geredet hätten, der in Deutschland eingeführt worden ist, von den unendlichen Möglichkeiten, die sie auf sozialem Gebiet in Deutschland noch existieren, dann würden Sie wahrscheinlich einen sehr viel stärkeren und nachhaltigeren Eindruck gemacht haben. Davon aber wurde nicht geredet, einfach deshalb nicht, weil man es mit der deutschen Großindustrie Oberschlesiens nicht verderben wollte, weil man schließlich nicht ohne Erröten den Leuten den Achtstundentag und seine Segnungen in demselben Augenblick vorführen wollte, wo man bereit ist, in Deutschland zu beseitigen oder zu unterminieren, weil kurz und gut, die ganze Agitation und Propaganda auf die sozial höherstehende Schicht des deutschen Unternehmertums, der deutschen Großindustrie, des deutschen Kapitalismus zugeschnitten war. So kam man denn immer dazu, zu sagen: dieses Oberschlesien ist von Deutschland erschlossen. Seht die deutschen Industrien, seht die deutschen Ingenieure und Direktoren! Man vergaß leider dabei sehr zum Nachteil der deutschen Sache, daß zur Erschließung eines Landes nicht nur das Kapital, die Industrie, die Banken, nicht nur die Direktoren und Ingenieure, sondern am Ende auch die Arbeiter notwendig sind. Zumal das oberschlesische Proletariat unter Tage eben polnisch fühlte, und indem man nun den ganzen Fortschritt Oberschlesiens auf das Kapital zuschnitt und den deutschen Charakter dieses Kapitals betonte, stieß man die polnisch sprechenden Proletarier in Oberschlesien aufs neue vor den Kopf und trieb sie in das Lager der Gegner hinüber.

(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Präsident: das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schücking.

28 Dr. Schücking, Abgeordneter:29 Meine Herren! Ziehen wir einmal die Bilanz und fragen uns: in welchen Faktoren besteht das Unglück des verlorenen Krieges? Es besteht nicht darin, wie ich zu meinem


28S. 4760B
29S. 4763D

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Kummer manchmal in der Presse lese und in öffentlichen Versammlungen höre, daß wir unsere Ehre verloren hätten. Nein, unsere Ehre haben wir nicht verloren. Auch für ein Volk kann es nur den Standpunkt geben, den Sokrates vertreten hat, daß die Ehre ein inneres Gut ist, das niemand demjenigen nehmen kann, der es noch besitzt, und solange unser Volk noch Selbstachtung hat und Selbstachtung haben muß, so lange kann kommen, was da will, die Ehre kann uns niemand nehmen.

(Lebhafte Zustimmung.)

Ich glaube aber, wir haben allen Grund, die Selbstachtung zu bewahren, wenn wir uns erinnern an das, was das deutsche Volk in den Kriegsjahren geleistet hat, auch wenn der Ausgang so unglücklich gewesen ist.

(Sehr gut!)

Wir, die wir heute immer noch unter dem Eindruck dieses unglücklichen Ausganges stehen und stehen müssen, wir vergessen das Maß von heroischen Leistungen, das damals vollbracht wurde, aber nicht nur von den Soldaten, sondern von allen Gliedern unseres Volkes, von den Frauen, die hinter dem Pflug hergegangen sind, und allen denen, die gedarbt haben und gehungert haben.

(Beifall.)

Dann besteht das Unglück des verlorenen Krieges, das uns heute noch am meisten schmerzt, in beinahe zwei Millionen Toten. Gewiß werden diejenigen, die sie gekannt und geliebt haben, sie nie vergessen. Aber neue Geschlechter werden aufsteigen aus dem Mutterschoß der Natur. Wie sagt Homer?

Folgen sie doch wie die Blätter am Baum
der Menschen Geschlechter,
Welkend streut auf die Erde der Wind, und
andere neue
Bildet der knospende Wald im wiedergewordenen Frühling.

Es wird einmal der Tag kommen, wo die letzte Mutter gestorben ist, die noch ein Kind zu beweinen hat, das sie im Krieg verloren. Dann die Verarmung. Gewiß, die Verarmung eines ganzen Volkes ist eine ungeheure Tragik, und diese Tragik wird noch erheblich erhöht durch dasjenige, was uns jetzt von Oberschlesien geraubt wird. Aber diese Verarmung ist nicht das Schlimmste, das deutsche Volk behält Güter, die ihm niemand nehmen kann: Schiller und Goethe, Kant und Schopenhauer, die großen Künstler unseres Volkes, Johann Sebastian Bach und Richard Wagner, die großen Maler Dürer und Mathias Grünwald. Wer wollte solche Schätze an Kultur dem deutschen Volke nehmen! Das Reich des deutschen Geistes wird uns immer bleiben, und dieses Reich ist unermeßlich weit. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, daß die Reichtümer dieser deutschen Kulturgemeinschaft auch allen deutschen Volksgenossen zugute kommen! Aber was auf die Dauer unerträglich ist, was eine offene, nie verheilende Wunde darstellt, das ist die Loßreißung immer neuer Volksgenossen vom Körper des deutschen Volkes. Felix Dahn hat einmal gesagt: das höchste Gut des Mannes ist sein Volk.

(Zuruf bei den Kommunisten.)

Von diesem deutschen Volk sollen jetzt wieder Hunderttausend abgerissen werden. Das ist, wie gesagt, unerträglich, und darum erheben wir uns in dieser Stunde zu einem flammenden Protest. Wir erklären: In der Not des Krieges ist das deutsche Volk abgedrängt worden von


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