1. Reichstag, Weimarer Republi


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Seite 158

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seinem völkerrechtlichen Besitzstande auf die Annahme dieser 14 Punkte Wilsons. Nach der Annahme dieser 14 Punkte sind wir von diesen abgedrängt worden auf den Frieden von Versailles, und jetzt will man uns abermals zwei, drei Jahre nach dem Kriege abdrängen von dem Frieden von Versailles.

(Sehr richtig! bei den Deutschen Demokraten.)

Wir können wohl der Gewalt weichen, aber wir können nicht durch unseren Willensschluß auch noch solch neues Unrecht in irgendeiner Form auch nur zum formalen Recht erheben.

(Sehr wahr! bei den Deutschen Demokraten.)

Es ist eine uralte deutsche Idee der Genossenschaft:30 mein Recht ist dein Recht, und dein Recht ist mein Recht. Wenn das Recht des einzelnen leidet, dann leidet das Recht des Ganzen, und das Recht des Ganzen gehört jedem einzelnen; deshalb ist jeder einzelne in seinem Recht gekränkt. Da auch die Kulturstaaten miteinander in einer großen Genossenschaft stehen, so ist durch diese Rechtsverletzung gegenüber Deutschland alles Recht geschädigt.

(Sehr richtig! bei den Deutschen Demokraten.)

Vergessen Sie nicht, das Recht gleicht einem Gewölbe, wo ein Stein alles und alles wieder den einen Stein trägt. Reißen Sie einen Stein beliebig heraus, erschüttern Sie dieses Gewölbe, so kann das ganze schließlich zusammenbrechen. Uns war in Aussicht gestellt, eine neue Epoche der Menschheit solle mit diesem Frieden kommen, die die Herrschaft des Rechtes auf Erden bringen sollte; aber ich sehe nur, wie die Gerechtigkeit als Bettlerin durch die Lande schreitet.

(Sehr wahr!)

Es ist Aufgabe der Wissenschaft des internationalen Rechts,31 in kürzester Zeit die Wege dafür zu finden, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Zukunft vor solchen Vergewaltigungen geschützt wird, daß so ungerechte Grenzen, wie sie hier wieder gezogen werden sollen, in den Formen eines geordneten rechtlichen Verfahrens korrigiert werden sollen

(Sehr richtig! bei den Deutschen Demokraten.)

Ich sage: es werden einst auch wieder bessere Tage kommen als diese.32 Ob durch den Fortschritt des Rechtsgedankens oder auf welchem Wege, weiß niemand in diesem Saale. Aber so viel wissen wir alle: in der Geschichte vollzieht sich immer wieder der Kampf des natürlichen Rechts gegen das formale, gegen das geschriebene Recht.

(Sehr gut! bei den Deutschen Demokraten.)


30S. 4764C
31S. 4764D
32S. 4765B

vorige

Darin spiegelt sich die ganze Rechtsentwicklung wieder. Das natürliche Recht, das immer triumphiert, wird auch in Zukunft triumphieren. Der gegenwärtige Zustand ist ja völlig unhaltbar. Ein Volk in der Mitte Europas hat man völlig entwaffnet. Ich könnte mir vom Standpunkte meiner persönlichen Weltanschauung aus sogar denken, daß die Abschaffung von 50.000 Kanonen ein Fortschritt ist, aber doch nur unter der Voraussetzung, daß nunmehr das Recht in der Welt herrscht,

(sehr richtig! bei den Deutschen Demokraten)

daß der einzelne auf die Macht verzichtet, so wie mancher im Innern des Staates von uns darauf verzichtet, einen Revolver bei sich zu tragen, weil er weiß: für seinen Schutz ist durch die öffentliche Ordnung gesorgt. Wie sieht es aber jetzt in der Welt aus? Wir sind machtlos, und auf der anderen Seite herrscht nicht der Gedanke der Gerechtigkeit, sondern die brutale Gewalt. Das ist ein Zustand, der viel zu unnatürlich ist, als daß er Dauer haben könnte. Man müßte an der Menschheit verzweifeln, wenn nicht die Vernunft und die Gerechtigkeit auch hier schließlich siegen sollten, wenn nicht auch hier das alte deutsche Sprichwort sich bewahrheiten sollte: Recht muß Recht bleiben. Endlich wende ich mich von den Brüdern und Schwestern in Oberschlesien an das ganze deutsche Volk, das infolge seiner politischen Lebensgeschichte mehr zerrissen ist als irgendein anderes Volk. Bis zum Jahre 1803, bis zum Untergang des alten heiligen römischen Reiches deutscher Nation, hatten wir in Deutschland nicht weniger als etwa 325 Territorialfürstentümer und 1500 Reichsbaronien; das waren etwa 2000 deutsche Territorien. Wir sind nicht nur durch unsere Geschichte territorial zerrissen, wir sind auch konfessionell zerrissen, und wir sind politisch zerrissen in Parteien, die sich erbitterter befehden, als es in anderen Ländern der Fall ist. Wir sind durch die Staatsumwälzung wiederum in die zwei großen Heerlager der Monarchisten und der Republikaner geteilt worden. Aber es gibt doch etwas, was uns alle eint, und das ist die Liebe zu unserem Volkstum.

(Bravo! Bei den Deutschen Demokraten.)

Es ist die Einheit des Schmerzes, die wir in dieser Stunde empfinden, und das ist eine heilige Einheit. Möge aus dieser Einheit des Schmerzes die wahre innere Einheit des deutschen Volkes trotz aller Zerrüttung hervorgehen! Dann könnte uns diese Zeit der Not und des Elends doch auch noch wieder zu einem Segen werden. Nur wenn wir diese gestärkte Einheit auf Grund unseres Schmerzes erleben, dann werden wir wenigstens einmal sterben können, nicht das Bild eines glücklichen und wohlhabenden Vaterlandes vor unseren Augen, wie wir es gekannt haben, aber doch mit dem beglückenden Bewußtsein: das Vaterland ist wieder im Aufstieg!

(Lebhafter Beifall bei den Deutschen Demokraten.)