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wäre damals Oberschlesien zum zweiten Male verloren gegangen.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
Meine Fraktion hat mit aller Entschiedenheit einer Demission des Kabinetts Wirth widersprochen.12
Sie wollte alsbald nach Eingang der Entscheidung über Oberschlesien das Parlament entscheiden lassen; das entspricht unserer
Auffassung des parlamentarischen Systems.
(Sehr gut! bei den Sozialdemokraten. - Zuruf von den Deutschnationalen: Unserer auch!)
Leider kamen wir damit nicht durch. Sie wissen, daß besonders von der demokratischen Partei verlangt worden ist, daß das
Kabinett bald demissioniere. - Ich sagte, was im Gegensatz dazu unserer Auffassung entspricht. Leider drangen wir damit nicht durch.
So kommt heute leider erst in letzter Stunde der Reichstag dazu, sich in dieser wichtigen Frage zu äußern. Das hat die
oberschlesische Bevölkerung, das hat auf die öffentliche Meinung hier und im Auslande den allerungüstigsten Eindruck gemacht.
(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten-. - Sehr
wahr! bei den Deutschnationalen.)
Die Verantwortung, die der Reichstag auch sich nimmt, ist aber durch die Hinauszögerung dieser Entscheidung nicht im kleinsten geringer geworden
Meine Damen und Herren! Sie haben die Ausführungen des Herrn Reichskanzlers gehört. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.
Fällt sie gegen das Kabinett Wirth aus, so hat die Mehrheit die Pflicht, die Regierung zu bilden.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten und im Zentrum.)
Diese Verantwortung nimmt ihr vor dem Volke dann niemand ab. Meine Freunde würden um der Sache willen bedauern, wenn es so
käme; denn das deutsche Volk in seiner Gesamtheit hätte die Folgen zu tragen.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten)
Zu Experimenten ist jetzt weder Zeit noch Gelegenheit. Es kann nur eine klare Entscheidung geben: sie muß dem Kabinett Wirth
günstig ausfallen, wenn neue langwierige Wirren und schwere Demütigungen dem deutschen Volke erspart bleiben sollen.
(Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.)
Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ulitzka. 13
Ulitzka, Abgeordneter: Meine Damen und Herren! Als ich vor anderthalb Jahren in Paris war,14 besuchte ich
den Invalidendom mit dem Sarkophag Napoleons, da las ich auf einem Grabmal eines Generals ungefähr die Worte: kein
französischer Soldat soll eher ruhen, bis nicht das letzte Stück Elsaß-Lothringens wieder zu Frankreich gehört.
(Hört! Hört rechts.)
Wenn wir auch nicht den Revanchegedanken schüren wollen, wenn wir auch eine friedliche Lösung aller dieser Ungerechtigkeiten
erstreben und wünschen, wird
12S. 4739A/B
13S. 4739C
14S. 4742B
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man es aber verhüten können, daß in unserem Volke dieser Gedanke der Rache oder der Revanche groß wird und sich
nicht mehr ausrotten läßt?
(Sehr richtig!)
Darum sollen die Herren, die in Genf entschieden haben, sich dessen bewußt bleiben: Sie haben in
Oberschlesien ein zweites Elsaß-Lothringen geschaffen,
(sehr richtig! - Zurufe: Noch viel schlimmer!)
ein Elsaß-Lothringen, das zu einer beständigen Konfliktgefahr wird, das Europa nicht zur Ruhe kommen lassen wird. Nicht die
Versöhnung hat man durch den Spruch herbeigeführt, sondern die Verewigung des Kampfes.
(Sehr wahr!)
Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hergt.15
Hergt, Abgeordneter: Meine Damen und Herren! Ich stelle wiederholt fest: der Rechtsbruch ist sonnenklar.16
Ich kann in diesem Zusammenhang nicht unterlassen, den Herrn Reichskanzler darauf hinzuweisen, daß er nach meiner
Auffassung der deutschen Sache einen Bärendienst geleistet hat, wenn er in einem der Interviews, die in der letzten
Zeit stattgefunden haben, gegenüber dem Korrespondenten der "Chikagoer Tribüne" zum Ausdruck gebracht hat:
Ich habe stets gefürchtet, daß gewisse Teile Oberschlesiens Polen zugeteilt werden, und das deutsche Volk war darauf vorbereitet,
die Kreise Pleß und Rybnik, wo die Polen bei der Volksabstimmung eine Mehrheit hatten, zu verlieren.
(Hört! Hört! bei den Deutschnationalen.)
Meine Damen und Herren! Daß heißt die Waffen dem Gegner selbst in die Hand liefern.
(Sehr wahr! bei den Deutschnationalen)
Ich weiß nicht, wo der Herr Reichskanzler seine Kenntnis von den Empfindungen des deutschen Volkes her hat. Unsere
Auffassung davon ist eine ganz andere. Wir glauben, daß sich das deutsche Volk auch gegen die Abtrennung von Pleß und Rybnik gewendet haben würde.
(lebhafte Zustimmung bei den Deutschnationalen)
Nein, meine Damen und Herren!17 Wir halten daran fest, daß nur das ungeteilte Oberschlesien dem Vertrage entspricht.
(Sehr richtig! rechts.)
Weil hier dieser schwere Rechtsbruch vorliegt, deshalb ist die heutige Situation erheblich bedenklicher, ist die Vergewaltigung
erheblich schlimmer als seinerzeit beim Ultimatum.
(Sehr wahr! rechts.)
Damals lag der Rechtsbruch mehr in der Androhung von Gewalt, die dem Ultimatum beigefügt war. Damals handelte es sich zu guter
Letzt nur um eine finanzielle, um eine wirtschaftliche Belastung, so schwer sie auch sein mochte. Damals waren die Raten in die
ferne Zukunft hineinverlegt, und man konnte doch eventuell die Hoffnung haben, daß dann die Welt anders aussehen würde. Damals
bestand nach Auffassung der Regierung ebenfalls die begründete
15S. 4743B
16S. 4744D
17S. 4745A
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