1. Reichstag, Weimarer Republi


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diese Fragen heute zurückzustellen. Ich richte deshalb meinen Appell zur Mitarbeit und meine Aufforderung, uns Ihre Billigung auszusprechen, an die Parteien dieses hohen Hauses.

(Lebhafter Beifall im Zentrum, bei den Deutschen Demokraten und Sozialdemokraten.)

Präsident: Ein Antrag auf Unterbrechung der Sitzung ist von keiner Seite gestellt; wir können also sofort in die Besprechung der Entscheidung und der eben gehörten Regierungserklärung eintreten. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller (Franken).

Müller (Franken), Abgeordneter: 8 Meine Damen und Herren! Der einzige Gegenstand unserer Tagesordnung ist die Entscheidung der Botschafterkonferenz über das Schicksal Oberschlesiens. Wir sind wieder einmal vor eine außerordentlich schwere Entscheidung gestellt. Der Herr Präsident und der Herr Reichskanzler haben bereits der Haltung der oberschlesischen Bevölkerung, dieser Märtyrer der deutschen Sache, gedacht. Ich schließe mich namens meiner Fraktion dem an.

(Bravo! bei den Sozialdemokraten.)

Wir glauben besonders dazu legitimiert zu sein; denn in den Zeiten der Abstimmung sind die deutschen Arbeiter und die deutschen Gewerkschaften die stärksten Träger des deutschen Gedankens und die Hüter der deutschen Sache in Oberschlesien gewesen.

(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)

Die Entscheidung, die der Oberste Rat über Oberschlesien auf Grund des Gutachtens des Völkerbundes getroffen hat, kann nach unseren Rechtsbegriffen kein Recht schaffen, sondern ist ein Ausfluß der Gewalt.

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(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)

Sie soll uns jetzt auch, ohne daß wir auch nur gehört werden, als Entscheidung aufgezwungen werden. Ich sage nach dem Auslande hin: als überzeugter Anhänger der Völkerbundsidee bedauern wir, daß der Völkerbundsrat sich dazu hergegeben hat, diese weder mit dem klaren Ergebnis der Abstimmung noch mit den Bedürfnissen der oberschlesischen, der deutschen, der europäischen Wirtschaft verträglichen Entscheidung zu decken. das ist für uns ein neuer Beweis dafür, das Rechtsfragen vor ein unabhängiges Schiedsgericht gehören und nicht entschieden werden dürfen von Delegierten von Regierungen, die nach machtpolitischen Grundsätzen und nicht nach rechtlichen Auffassungen ihre Entscheidung treffen.

(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)

Aus der uns übermittelten Entschließung über Oberschlesien spricht nicht das Selbstbestim-mungsrecht der Völker, sondern in ihr sehen wir vielmehr die Auswirkung des französisch-polnischen Geheimvertrages, der entgegen den Satzungen des Völkerbundes weder in Genf registriert, noch durch das Amt des Völkerbundes veröffentlicht ist.

(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)


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9S. 4737B

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Wir bedauern diese Sachlage, die es den Anhängern der Völkerbundsidee außerordentlich erschwert, in Deutschland für die Idee des Völkerbundes zu wirken, was notwendig ist, um für alle Zeiten zu verhüten, daß wieder ein so grausamer Krieg ausbricht. Meine Damen und Herren! Die allerverkehrteste Politik wäre es aber, wenn versucht würde, eine Politik der Rache zu treiben,10

(sehr richtig! bei den Sozialdemokraten)

eine Politik, die sich sehr bald an dem Rächer rächen würde.

(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Eine Politik des Boykotts würde nicht nur die oberschlesische, sondern auch die gesamte deutsche Industrie schädigen. Sie würde nur Haß und Terror begünstigen; sie würde die Auswanderung steigern und damit die Polonisierung fördern. Sie wäre damit antideutsch.

(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Diese Politik muß deshalb mit allen Mitteln von der Regierung abgewiesen werden, und sie darf von privater Seite nicht getrieben werden. Meine Damen und Herren! Man wirft dem Herrn Reichskanzler vor,11 daß seine bisherige Politik falsch gewesen sei. Ich habe im Auftrag meiner Fraktion zu erklären, daß unserer Auffassung nach die von dem zurückgetretenen Kabinett getriebene Politik die einzig mögliche war,

(sehr wahr! links)

und damit war sie richtig.

(Erneute Zustimmung links.)

Jedes Kabinett muß nach unserer Auffassung die gleiche Politik treiben; denn die heutige deutsche Politik folgt im großen zwangsläufig aus dem verlorenen Kriege und nur im kleinen haben wir die Hände noch frei. Diese Zusammenhänge lassen wir nicht verwischen. Wenn nach der Entscheidung des Botschafterrats Teile von Oberschlesien verloren gehen sollen, so ist das eben die Folge davon, daß wir den Krieg verloren haben, daß die deutsche oberste Heeresleitung gezwungen war, im Oktober 1918 vor den Machtmitteln der Entente zu kapitulieren.

(Sehr wahr! links.)

Ich mache darauf aufmerksam: durch den ersten Versailler Vertragsentwurf sollte ganz Oberschlesien ohne weiteres und ohne Abstimmung zu Polen geschlagen werden.

(Hört! Hört! bei den Sozialdemokraten.)

Es ist das Verdienst des Kabinetts Scheidemann-Brockdorf-Rantzau, daß das damals verhindert worden ist, und daß bei der Abänderung des Entwurfs die Abstimmung durchgesetzt worden ist, die es erst ermöglicht hat, um Oberschlesien zu kämpfen.

(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)

Die folgenden Regierungen haben zähe um Oberschlesien gerungen. Die Gefahr des Verlustes war mehrfach da. Ich erinnere an den Polenaufstand in diesem Jahr. Wenn sich damals in diesem hohen Hause nicht eine Mehrheit gefunden hätte, die das Londoner Ultimatum annahm, so


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11S. 4738C

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