1. Reichstag, Weimarere Republik


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Reichstag. - 45. Sitzung. Freitag den 10. Dezember 1920

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das Volk draußen hungern muß. Sie haben während des Krieges die Schuld auf die Blockade abgeschoben. Nein, Sie sind es, meine Herren, die das deutsche Volk erdrosselt haben, die es so weit getrieben haben, wie es gekommen ist!

(Glocke des Präsidenten)

Vizepräsident Dr. Bell: Herr Abgeordneter Reich,

ich nehme an, daß Sie mit dieser Äußerung kein Mitglied des Hauses meinen. Ich würde sonst die Äußerung als unparlamentarisch bezeichnen müssen.

Reich, Abgeordneter: Ich meine diejenigen, die diese Politik getrieben haben, und wenn hier derartige Herren sitzen, dann meine ich auch diese Herren!

(Glocke des Präsidenten)

Vizepräsident Dr. Bell: Herr Abgeordneter, auch in dieser bedingten Form ist die Bemerkung parlamentarisch unzulässig. Ich bitte Sie, derartige Bemerkungen zu unterlassen. 7

(Zuruf von der U.S.P. [Linke]: Aber wahr ist sie!)

Reich: Abgeordneter: Meine verehrten Anwesenden! Ich will Ihnen nur kurz eine Notiz einer englischen Zeitung ins Gedächtnis rufen, wo Ihnen das Heuchlerische dieses Treibens vorgehalten wird. Die "Evening News" schreiben: 8

Deutschland veranstaltet eine Werbewoche für seine hungernden Kinder. Die Ausbeuter entdecken ihr Herz für die Kinder, deren Elend und deren Hunger die Grundlage ihres Luxuslebens ist. Das heißt, sie entdecken ihr Herz, um den Geldbeutel der anderen zu rühren. Ihre Philanthropie wird freilich nicht nur von uns als widerliche Heuchelei erkannt.
(Sehr richtig! Bei der U.S.P [Linke].) Und an einer anderen Stelle schreiben die "Evening News":
Im Jahre 1914 trank Deutschland 6 Millionen Flaschen Champagner. In diesem Jahr hat der Verbrauch 10 Millionen betragen.

(Erneute Zurufe bei der U.S.P. [Linke]: Hört! Hört!)

Hier zeigen sich ganz deutlich die Riesengegensätze zwischen üppigem Genuß und tiefstem Elend, das in Deutschland in die Erscheinung tritt. Wir sehen, daß eine kleine Schicht heute im Überfluß schwelgt, daß auf der anderen Seite tausende und aber tausende dahinwelken ohne Anteil an den Gütern der Kultur. 9

(Sehr richtig! Bei der U.S.P. [Linke].)

Meine Damen und Herren! Es ist von dieser Seite (nach rechts) auch von den Kartoffeln gesprochen worden. 10 Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß im Winter 1918, als wir in Mecklenburg eine Kontrolle vornahmen, weil Hamburg keine Kartoffeln mehr hatte und nicht mehr in der Lage war, genügend Kartoffeln verteilen zu können, in Mecklenburg die Kartoffelmieten sehr


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mangelhaft eingedeckt waren, und als wir uns erkundigten, der Ortsvorsteher erklärte: Ja, meine Herrn, das ist eine ganz bestimmte Politik; denn wenn diese Kartoffeln erst einmal erfroren sind, dann bekommen sie eine Mark mehr pro Zentner, als wenn sie dieselben Kartoffeln als Speisekartoffeln abliefern müssen.

(Hört! Hört! Bei der U.S.P. [Linke].)

Sie liefern lieber die Kartoffeln an die Spirituosenzentrale oder damals auch an die Kartoffelflockenfabrik, die ebenfalls 1 Mark mehr bezahlte pro Zentner, als sie für Speisekartoffeln erhielten. Wir haben ganze Waggons beschlagnahmt, wo man obenauf schlechte Kartoffeln geschüttet hat und zwei Drittel der Kartoffeln wirklich gute Speisekartoffeln waren. Sie waren bestimmt nach den Kartoffelflocken-fabriken. Es ist ganz erklärlich, wenn dort ein Großagrarier meinetwegen 50.000 Zentner Kartoffeln abzuliefern hat und er erklärt: sie sind erfroren, und er liefert sie nach der Kartoffelfabrik, so hat er mit einem Schlage 50- bis 100.000 Mark an diesen Kartoffeln verdient.

(Hört! Hört! Bei der U.S.P. [Linke].)

das war der Patriotismus jener Kreise während des Krieges gegenüber der notleidenden und darbenden Bevölkerung. Ich möchte mich auch einmal weiter erkundigen, was die Regierung unternommen hat wegen der Milch an der dänischen Grenze. Diese wird zwar heute nicht mehr zu Butter verarbeitet, aber man füllt sie heute in Blechdosen, und diese Blechdosen gehen nach Dänemark; dort wird ein Etikett aufgeklebt und dieselbe Milch wird dann als dänische kondensierte Milch in Deutschland wieder eingeführt, nur mit dem Unterschied, daß der Bauer für ein Liter Milch 6 bis 7 Mark bekommt,

(lebhafte Rufe bei der U.S.P. [Linke]: hört! hört!)

und daß die deutschen Mütter dann diese Schieber- und Wucherpreise bezahlen müssen und dadurch nicht in der Lage sind, ihren Kindern genug Milch liefern zu können, so daß die große Kindersterblichkeit heute in Deutschland mit Naturnotwendigkeit in Erscheinung treten muß. Wenn wir uns nun weiter fragen: was hat die Regierung unternommen? Hat sie die Notlage eigentlich bereits erkannt? - so möchte ich darauf hinweisen: wenn Herr Hermes die Notlage des deutschen Volkes noch nicht erkannt hat, so bitte ich ihn, sich einmal bei dem Herrn Generalleutnant Max Schwante zu erkundigen, der über den Etat der Reichwehr folgendes schreibt: Die Arbeitsmöglichkeiten nehmen dauernd ab, die Zahl der Arbeitslosen steigt, die Preise für Lebensmittel steigen gleichfalls und mit ihnen Wasser, Gas, Elektrizität, Kohlen, Mieten usw.; die infolge schlechter Roggenernte gefährdete Brotversorgung droht zur Katastrophe zu werden; das alles sind klar und offen zutage liegende Faktoren für eine Steigerung der inneren Gärung. Und was verlangt der Herr Generalleutnant Max Schwante? Aufrechterhaltung einer starken Reichswehr,

(hört! hört! Bei der U.S.P. [Linke].)

gegen Hunger und Kälte Maschinengewehre und Bajonette, mit denen die Reichswehr dann den Kampf


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