1. Reichstag, Weimarer Republik


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(Hört! Hört! Links.)

Wenn es nun auch auf dem Gebiet der Kartoffelversorgung vielleicht am schlimmsten in der Volksernährung aussieht, so sind die Ernährungsverhältnisse bei anderen Produkten auch außerordentlich schlimm.24 Gerade die wichtigsten Nahrungsmittel, wie Milch, Butter, Fett und auch Zucker steigen unausgesetzt im Preise.25 Ich möchte zum Schluß auch darauf aufmerksam machen, daß die ganze Lebensmittelnot, die Not, sich überhaupt noch zu reinigen und zu bekleiden, das heißt überhaupt noch als Kulturmensch zu leben, doch nicht nur auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet ihre ungeheuren Auswirkungen zeigt, sondern auch auf das gesamte Kulturgebiet übergreift.26 Es ist nicht möglich, meine Damen und Herren, daß Menschen zu einem Kulturbewußtsein kommen können, wenn sie überhaupt nicht mehr menschenwürdig leben,

(sehr richtig! Bei den Sozialdemokraten und rechts)

wenn sie jeden Tag hungern müssen, wenn sie sich nicht mehr reinigen können, wenn sie sich nicht mehr bekleiden können.

(Sehr wahr! Bei den Sozialdemokraten. - Zustimmung rechts.)

Es gehört zu einem Kulturleben, daß die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse so sind, daß man überhaupt noch das Bewußtsein hat, Mensch zu sein. Und so unendlich viele können dieses Bewusstsein nicht mehr haben. Ich möchte Sie bitten, in Berlin oder im Industriegebiet einmal die elenden Bewohnungen anzusehen, wo unserer Arbeiter mit ihren großen Familien wohnen. Ich glaube, es würde Ihnen das Lachen und Kopfschütteln manchmal vergehen.


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(Sehr wahr! Bei den Sozialdemokraten.)

Sie würden vor diesem furchtbaren Elend schaudern, Sie würden vielleicht die ganze Ungeheuerlichkeit fühlen, die darin liegt, daß einem großen, arbeitenden schaffenden Volk, das den Willen hat emporzukommen, das den Willen hat, aus den Schrecken des verlorenen Krieges wieder zu einer Kulturhöhe zu gelangen, jede Möglichkeit hierzu genommen ist durch die Verteuerung der Lebenshaltung.

(Zurufe rechts: Versailles und Ultimatum!)

Es ist ja soviel geklagt worden, gerade von den Bevölkerungsschichten, die den Rechtsparteien dieses Hauses zugehören, über die zunehmende Verwahrlosung der Kinder, der Jugendlichen. 27 Ich möchte hierzu nur sagen: Kinder und junge Menschen erzieht man nicht mit Moralpredigten, sondern erzieht sie zu einer größeren Sittlichkeit, zu einer höheren Moralauffassung nur durch das Beispiel der Tat. Nur wenn diesen jungen Menschen, wenn diesen Kindern das böse Beispiel genommen wird, das weite Kreise des Volkes sich an der Not der weitesten Schichten des Volkes ganz schamlos bereichern dürfen, nur dann dürfen wir überhaupt wieder verlangen, daß ein anderes Moralbewusstsein durch diese heranwachsenden jungen Menschen geht. Der Staat hat die Verpflichtung, sich seiner schwächeren Glieder anzunehmen. Die Kindern und die Heranwachsenden, alle, die nicht mehr von dem Ertrage der Arbeit leben können, die Rentenempfänger in ihrer großen Gesamtheit sind die schwächsten Glieder des Staates. Für die muß vor allen Dingen gesorgt werden durch eine gesunde, auskömmliche Ernährung. Es handelt sich bei der Sicherstellung der Ernährung, bei der Verbesserung der Lebenshaltung um nicht mehr und nicht weniger als um unsere Zukunft überhaupt, um unser aller Zukunft.

(Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.)

Vizepräsident Dr. Bell: Die Aussprache ist geschlossen.


26 S.5051A