1. Reichstag, Weimarer Republik


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darum, mit dem Antisemitismus gegen das demokratische System zu Felde zu ziehen. Und unter diesen Umständen, stellt es für Herrn Hergt auch kein Problem dar, wenn Juden in seiner Partei Mitglied werden sollen. Die Hauptsache, sie kaufen sich ein und betreiben Agitation für den Konservatismus. Ich glaube, daß ich damit diesen Punkt der Ausführungen des Herrn v. Graefe verlassen kann. Meine Damen und Herren! Es ist verschiedentlich darum gebeten worden, keine retrospektiven Betrachtungen anzustellen. Aber die Art und Weise, wie der Herr Abgeordnete v. Graefe hier die Regierung und die Mehrheit des Parlaments herausgefordert hat, zwingt doch gerade dazu. Herr v. Graefe hat auf die Not des Volkes hingewiesen, sodann auf unsere diplomatischen Niederlagen, die wir erlitten hätten. Er hat gesagt, wir seien der Exekutor der Entente und führten Deutschland in die Sklaverei und anderes mehr. Er hat aber nicht gesagt, was passiert wäre, wenn wir den Vorstellungen seiner Partei gefolgt wären. Er hat uns nicht auseinandergesetzt, wie dann die Freiheit des deutschen Arbeiters hätte verteidigt werden können und wie man ihn hätte schützen können vor Lohnsklaverei. Alles, was die regierenden Mehrheitsparteien heute blutenden Herzens tun müssen, tun sie doch nicht aus freien Stücken, sondern weil sie es tun müssen aufgrund des verlorenen Krieges. Daran muß immer und immer wieder erinnert werden.

(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten - Große Unruhe und Zurufe rechts: Eure Revolution ist daran schuld.)

- Ach, Sie behaupten immer, daß die Revolution schuld sei. Wenn die Revolution nicht gekommen wäre, hätten wir genau dieselben Verpflichtungen zu erfüllen,

(lebhafter Widerspruch rechts)

die wir zu erfüllen haben. Ich will Ihnen das nachweisen. Sie kennen doch die Depesche des Generals Ludendorff, der am 2. Oktober 1918 an den damaligen Reichskanzler Prinz Max von Baden telegraphiert hat: Unsere letzte Menschenreserve ist verbraucht. Der Feind ist durch die amerikanische Hilfe in der Lage, seine Verluste zu ersetzen. Die Fortsetzung des Krieges muß daher als aussichtslos aufgegeben werden. Keine Zeit darf verloren gehen. Jede 24 Stunden können die Lage verschlechtern. - Das ist der Beweis, daß wir angesichts der Übermacht der Gegner an Material und Menschen einfach nicht mehr weiter konnten, und daß nicht die Revolution daran schuld war. Das muß erwähnt werden, um dieser Geschichtsfälschung immer wieder entgegenzutreten. Wer seine fünf Sinne beisammen hat und nicht an unheilbarer Gedächtnisschwäche leidet, muß sich doch noch daran erinnern, daß ehe die Revolution kam, Österreich und Bulgarien von dem Bündnis der Mittelmächte abgefallen waren. Ich frage den, der Verstand im Kopf hat: Wie hätten wir denn diesen Krieg weiterführen sollen ohne unsere Verbündeten?

(Unruhe und Zurufe rechts.)

Also, daß die Revolution schuld sei, können Sie Leuten weismachen, die nur mit dem deutschnationalen Lutschbeutel großgezogen worden sind,

(Heiterkeit)


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die sonst keine geistige Nahrung bekommen haben. Wie gesagt, wir müssen, so unangenehm das ist, immer wieder auf die Vergangenheit eingehen, weil wir dazu gezwungen werden und weil es leider immer noch Dumme gibt, die gelegentlich auf solche Geschichts-verfälschungen reinfallen.

(Beifall bei den Sozialdemokraten.)

Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Burlage.

Burlage, Abgeordneter:3 Meine Damen und meine Herren! Ich werde Ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen. Nur soviel zu den Äußerungen des Herrn v. Graefe und der rechten Presse, die diese Regierung glaubt verunglimpfen zu können. Ihre Presse hat anläßlich der Unterzeichnung des Londoner Ultimatums gesagt, die Zusammenbruchspolitiker seien wieder an der Arbeit. In der "Deutschen Tageszeitung" stand zu lesen:

Herr Wirth hat das zweite Versailles zu vollziehen. Wir wüßten nicht,
- so schreibt das Blatt -
wessen Name würdiger wäre, unter diesem Dokument zu stehen, als der des alter ego Erzbergers.

Wenn Sie gar nichts mehr zu sagen wissen, rufen Sie nur "Erzberger" und meinen, alle Fragen seien nun beantwortet. Der "Reichsbote" sagte, die Reichsfeinde hätten wieder unterschrieben. Den Gipfel von allen erklimmt aber ein deutschnationales süddeutsches Blatt, nämlich die "Süddeutsche Zeitung". Was hier steht, muß ich wörtlich vorlesen, um Sie zu fragen, ob Sie solche unerhörten Anpöbelungen eigentlich billigen. In dem Blatt wird die Rede des Reichskanzlers behandelt, und dabei heißt es: So aber hat man bei vielen, die so große Worte in dem Munde wie das "Reich und seine Einheit" führen, das peinliche Gefühl, als versuchten sie das Reich nur darum zusammenzuhalten, um ihre fetten Pfründe

(hört! hört! bei den Sozialdemokraten)

und schönen Posten,

(Pfui! im Zentrum)

die sie ohne Verdienst und Würdigung als Nutznießer der Revolution besitzen, nicht verlieren zu müssen,

(wiederholte Pfui-Rufe im Zentrum und bei den Sozialdemokraten)

als wäre es ihnen beim Anziehen der Steuerschraube und bei ihren Diensten als Büttel der Feinde nur darum zu tun, zunächst den eigenen Bedarf zu sichern und eigene Wünsche zu befriedigen.

(Andauernde Pfui-Rufe.)

Solche Dinge lassen Sie in die Welt gehen, ohne ein Wort des Tadels zu finden. Ich weiß, daß Sie auch heute wieder das Wort der Ablehnung nicht herausbringen werden. Aber das will ich Ihnen denn doch sagen: Solche Artikel - und davon gibt es mehr als genug - sind schamlos und erbärmlich.


3 S. 3807

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