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Auszug aus Kindlers Literaturlexikon

Stichwort: Der Reigen

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Reigen. Zehn Dialoge. Komödie von Arthur Schnutzler (1862-1931. Uraufführung des gesamten Zyklus: Berlin, 23.12.1920, Kleines Schauspielhaus.- Schnitzlers Reigen gehört zu den Werken der Weltliteratur, die nicht nur durch ihren literarischen Rang, sondern zugleich durch ihre außerästhetischen Wirkungen, den Schock, den sie bei den Zeitgenossen auslösten, berühmt geworden sind. In einer "Geschichte der Literatur vor Gericht" nimmt diese zynische Komödie(...) einen wichtigen und ehrenvollen Platz ein. Daß man ausgerechnet Schnitzlers Werk als "Pornographie" auf die Anklagebank gebracht hat,ist paradox, liegt ihm doch nichts ferner, als sexuell aufreizend zu wirken, will es dochselbst Anklage, moralische Entlarvung sein. Der Gerichtsprozeß nach der Berliner Uraufführung erwies sich als Bumerang: Die bürgerliche "Moral", in deren Nemen dem Berliner Reigen der Prozeß gemacht wurde, offenbarte ihre ganze Verlogenheit und Niedertracht.Die Sorge um die gesunde Volksmoral kam aus recht trüben Quellen: man versuchte den "zersetzenden" Juden Schnitzler zu treffen(dessen Werke später auch der nationalsozialistischen Bücherverbrennung zum Opfer fielen); was katholische und nationalistische Verbände einte, waren Antisemitismus, vermischt mit heuchlerischer Prüderie. Schnitzler hatte die skandalisierende Wirkung seines Stückes vorausgesehen, es aus diesem Grund jahrelang zurückgehalten und dann zunächst nur einem kleinen Kreis durch einen Privatdruck zugänglich gemacht.Erst fast ein viertel Jahrhundert nach seiner Entstehung kam es so zur Aufführung des gesamten Zyklus. (...)

(...) Richard Alewyn hat die Konzeption des Reigen-Zyklus einleuchtend mit dem der Form des Totentanzes verglichen: Denn wie dort Kaiser und Bettler vor dem Tode einander gleich sind, so schwinden auch angesichts des sexuellen Akts alle Unterschiede der gesellschaftlichen Stellung.An der Spitze, wie in den unteren Regionen der sozialen Pyramide lassen sich die immer gleichen Reaktionen erkennen, dasselbe Ritual der Kontaktsuche, des Sich-Sträubens und Zierens, der moralischen Entrüstung oder scheinbaren Befremdung (...) dem nach kurzer Zeit das Erliegen und schließlich, wenn der Rausch vorbei ist, die Ernüchterung und Kälte folgen.Freilich, je höher das soziale Milieu, desto komplizierter jenes Ritual; man macht mehr Umstände, sucht die kaum verhüllten und immer gleichen Motive moralisch, ästhetisch oder auf andere Weise zu kostümieren, man ist allerdings auch weniger Vital, wie die Potenzschwäche des jungen Herrn in der vierten Szene, dem komödiantischen Höhepunkt des Stücks, zeigt; vor allem aber betont man die Einmaligkeit seiner Person, beansprucht der erste und einzige in der Gunst des Partners zu sein. (...)

Aus: Hauptwerke der deutschen Literatur: Hrsg. Manfred Kluge, Rudolf Radler, Kindlerverlag München,9. Auflage. 1974